Chill mal, Frau Freitag
den Plan verfolgt, mich in den Wahnsinn zu treiben. Aber auf dem direktesten Weg. Und ich doofe Kuh gehe auch noch voll drauf ein. Liefere mir mit ihm jede Stunde Wortgefechte, die man hier gar nicht wiedergeben kann.
Das Harmloseste ist noch die Frage, ob er wahlweise ein Radio, einen Clown oder ein Tier verschluckt hat. Manchmal bellt er, heute machte er Vogelgesänge nach. Er kann auch nur schlecht rappen. Alles, was er macht, regt mich auf.
»Yusuf, was ist mit dir? Welche Krankheit ist das? Was hast du?«
»Ich weiß nicht? Vielleicht Diabetes?«
»Du weißt doch gar nicht, was Diabetes ist! Du musst zum Logopäden«, ich stocke kurz, habe ich Logopäde gesagt? Ich wollte sagen, dass er Logorrhoe hat. Aber die Schüler wissen eh nicht, was das ist, und da kann ich sein Dauergequatsche auch ruhig als ›Logopädie‹ bezeichnen. »Ja, du hast LOGOPÄDIE.«
»Immer ich, Sie meckern immer nur mich an. Gucken Sie, die anderen quatschen doch auch.«
»Die anderen gehen mir aber nicht so auf die Ketten wie DU! Deine Stimmlage macht mich verrückt. Willst du mir sagen, dass du hier nicht die ganze Zeit störst?«
»Doch, aber die anderen …«
»Siehst du, schon wieder quatschst du. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Halt doch endlich mal die Backen!« Ein paar Sekunden Ruhe, dann wieder Vogelgeräusche. Ich wende mich ab und wische die Tafel. Runterkommen! Runterkommen! Nicht so aufregen, du machst dich doch voll lächerlich. Uahhh, jetzt singt er auch noch.
Ich schleiche mich wieder zu ihm, diesmal von hinten. Und schreie ihm ins Ohr: »SEI DOCH MAL LEISE!« Er zuckt erschrocken zusammen. »Aua, mein Ohr. Mir platzt ja das Trommelfell.«
»Und ich hab schon einen Tinnitus von deinem ewigen Gelaber und Rumgeschreie.«
»Aber Frau Freitag, ich bin doch Araber. Haben Sie nicht gesehen, bei Kaya Yanar? Wir Araber sind so laut.«
»Aber Yusuf, es gibt doch auch leise Araber.«
»Ja, aber das sind dann wahrscheinlich Ägypter. Wir sind ja Palästinenser.« Gut, dass er es sagt, wäre ich im Leben nicht drauf gekommen. »Yusuf, aber nicht alle Palästinenser schreien ständig so rum oder bellen.«
»Hmm«, er denkt nach, »vielleicht kommt das auch von zu Hause.«
»Ja, könnte sein«, antworte ich, etwas netter.
Als Geste der Versöhnung lasse ich ihn die Arbeitsmaterialien, die ich ausgegeben habe, einsammeln und lobe ihn, dass er in den letzten drei Minuten des Unterrichts etwas ruhiger war. Irgendwie ist er ja auch süß, auf seine Art. Wenn man ihn fermentieren könnte, gäbe er ein super Blutdruckmittel ab.
Es gibt keine Ausländer in Deutschland!
Meine Schüler sind für mich Deutsche. Alle! Auch Blutdruck-Yusuf. Hier geboren, nicht hier geboren, geduldet, mit Pass, ohne Pass, befristet, unbefristet, und hätte ich Illegale, dann wären auch die Deutsche für mich. Ich unterrichte keine Ausländer! Ich bin keine Ferienschule, wo Ausländer im Sommer Spanisch lernen und dann wieder in ihr Inland fahren. Alle, die hier wohnen und die hier zur Schule gehen, sind für mich meine Schüler, und ich unterrichte an einer deutschen Schule, dann sind die Schüler für mich Schüler einer deutschen Schule, also deutsche Schüler. Was für eine Religion die haben, ist mir persönlich egal. Wo die Großeltern mal gewohnt haben auch. Wir hatten in der Grundschule ein Mädchen in der Klasse, die kam aus Ostfriesland. Und hieß die Schülerin mit ostfriesischem Hintergrund?
Nach wie vielen Generationen darf ich denn meine Schüler offiziell als deutsche Schüler bezeichnen? Ja, sie sprechen schlecht Deutsch. Ja, sie sind (fast) alle hier geboren. Die, die nicht hier geboren sind, sprechen noch am besten Deutsch. Und die Schüler ohne Migrationshintergrund, also diese »Blutsdeutschen«, sprechen genauso schlecht wie ihre Mitschüler.
Wir haben an den Schulen ein Schichtenproblem und kein Migrantenproblem. Ich kann es nicht mehr hören: Die – wir. Die Deutschen – die Ausländer. Migranten – Nichtmigranten. Und dann immer dieser berühmte »Hintergrund«. Reden wir doch mal über den Vordergrund! Und da ist es doch schnurzpiep-egal, warum die schlecht Deutsch sprechen. Sie tun es einfach, und man sollte nach vorne sehen und überlegen, wie man das ändern kann. Meiner Meinung nach tun wir den Schülern keinen Gefallen, wenn wir sie als inzwischen vierte Generation, die hier geboren wurden und die das Herkunftsland ihrer Eltern höchstens aus dem Urlaub kennen, immer noch als Ausländer titulieren. Mich
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