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Chill mal, Frau Freitag

Titel: Chill mal, Frau Freitag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frau Freitag
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die ganze Zeit um das unmögliche Verhalten unserer Schülerschaft. Irgendwann brachte ich das Thema Antisemitismus in die Diskussion ein. »Und das Krasseste ist doch wohl, dass die Schüler sich gegenseitig mit ›Jude‹ beschimpfen!« Die Kollegen gucken mich an. Schweigen. Ein Kollege: »Echt? Also, das ist mir noch nicht aufgefallen.« Ein anderer: »Mir auch nicht.« Ich glaub, ich spinne.
    Dann aber der Erdkundelehrer: »Doch, doch, das stimmt, was Frau Freitag sagt.« Ich beruhigt. Er dann aber: »Ja, das machen die in deiner Klasse. Da habe ich das auch schon mal gehört.«
    »Wie jetzt, das soll nur bei mir so sein? Und ihr habt das noch nie gehört? Rainer, bei dir in deiner Klasse sagen das Ahmet, Momo und Emre. Gabi, bei dir Kevin, Zeynab und Esra …«
    Rainer: »Echt? Ist mir noch nie aufgefallen.«
    Gabi: »Na, wie auch immer, was ist jetzt mit dem Zuspätkommen, lasst uns mal weitermachen, sonst werden wir heute nie fertig.«
    Ganz recht, das ist die bisher schlechteste Methode gewesen.
    4. Möglichkeit: Die natürliche Reaktion
    Es heißt doch immer, der Lehrer soll authentisch bleiben. Bei dieser Methode zeige ich mich als total authentische Lehrkraft, denn ich reagiere so, wie ich eben reagiere.
    Ausgangssituation wie immer, dann sagt einer: »Du Jude.« Auftritt Frau Freitag. Ich hole tief Luft und schreie in maximaler Lautstärke los: »WAS HAST DU DA GERADE GESAGT? ›JUDE‹? GEHT’S NOCH? WAS BILDEST DU DIR EIN?«
    Der Wortlaut ist eigentlich egal. Das totale Ausflippen ist wichtig. Die Lautstärke und die Aggressivität, gemischt mit absoluter Empörung, als hätte man diese Art der Beleidigung zum ersten Mal gehört.
    Die Schüler waren geschockt. Sagten gar nichts mehr. Irgendwann fragte mich dann einer leise: »Frau Freitag, sind Sie Jude?«
    Ich dann, immer noch schreiend: »NEIN, ICH BIN E-V-A-NG-E-L-I-S-C-H, ABER AUCH WENN ICH VOM MARS KÄME, WÜRDE ICH DAS HIER NICHT DULDEN.« Und dann noch als kleines Bonbon: »Hier wird ›Jude‹ nicht als Schimpfwort benutzt, wir sagen hier auch nicht ›Kanacke‹, ›Polacke‹, ›Paki‹, ›Zigeuner‹ oder ›Nigger‹! VERSTANDEN?«
    Diese Methode verhindert wenigstens, dass die Schüler, die das miterlebt haben, sich in meiner Gegenwart noch mal mit »Jude« beschimpfen.
    5. Möglichkeit: Anzeige wegen Volksverhetzung
    Als ich meine Klasse bekam, beschimpften sie sich ständig mit »Jude«. Nachdem ich die gerade beschriebenen, doch recht wirkungslosen Methoden angewendet hatte, überlegte ich mir was Neues. Ich druckte den Schülern den Paragraphen über Volksverhetzung aus, las ihn inklusive des Strafmaßes emotionslos vor und stellte folgende Regel auf: Wenn jemand noch einmal »Jude« als Schimpfwort benutzt, gibt es ein Gespräch beim Schulleiter und die Eltern werden informiert. Sollte es ein weiteres Mal vorkommen, stelle ich bei der Polizei eine An zeige wegen Volksverhetzung. Emotionslos, sachlich und mit einem Gesichtsausdruck, der keine Zweifel zuließ.
    Was passiert ist? Schlagartig haben die Schüler angefangen, sich nur noch mit anderen Ausdrücken zu beleidigen. Rutscht einem Schüler doch noch aus Gewohnheit ein »Ju-« aus dem Mund, halten die anderen sofort die Luft an. Ich ziehe dann nur eine Augenbraue hoch und fixiere den Schüler, der sich sofort in Entschuldigungen windet: »Tut mir leid, tut mir leid, wollte ich nicht, mach ich nicht wieder. Schwöre, vallah , in escht.«
    Was mich neben dem Antisemitismus meiner Schüler noch stört, ist die Lautstärke. Manche Schülerstimmen haben eine unerträgliche Frequenz, Tonlage Folter. So auch alle Mitglieder der Familie El-Lachma. Die Familie hat gefühlte hundert Kinder, alles Söhne, alle mit unerkanntem und deshalb unbehandeltem ADHS (falls jemand ADHS nicht kennen sollte: so dermaßen nerviges Zappelverhalten, dass man sich vergessen möchte), und in jeder Klasse scheint ein Sohn der El-Lachmas zu sitzen. Heute in der zweiten Stunde hatte ich bereits das Vergnügen mit dem ältesten Sohn – der ist mittlerweile recht vernünftig, schreibt nur immer die Hausaufgaben ab. Und gerade hatte ich eine Doppelstunde mit dem Kleinsten, Yusuf.
    Wahrscheinlich hat er in der Schule und zu Hause das Problem, dass ihm keiner zuhört und sich keiner mit ihm beschäftigt. Von der Sekunde an, in der er den Raum betritt, bist du von ihm genervt. Er kann keine Minute die Klappe halten. Vielleicht hat er auch eine Schilddrüsenüberfunktion, allerdings vermute ich, dass er einfach nur

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