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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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lächelnd. »Ver-lo-ren.« Dann starrte sie eine Zeitlang ins Leere, das Gesicht grinsend verzerrt, ihre Finger in meiner Hand wie ein Bündel Reisig. » Ver-looo-ren «, wiederholte sie abwesend und begann zu weinen. Ich tröstete sie, so gut ich konnte, und steckte die Zeitungsartikel zurück in die Mappe. Dabei fiel mir auf, daß in mehreren Artikeln über denselben Fall berichtet wurde, über das Verschwinden der achtzehn Monate alten Sylviane Caillou in Paris. Ihre Mutter hatte sie zwei Minuten lang im Auto allein gelassen, während sie etwas aus der Apotheke besorgte, und als sie zurückkam, war das Baby nicht mehr da. Mit dem Kind verschwunden waren die Tasche mit den Windeln und die Spielsachen, ein roter Plüschelefant und ein brauner Teddybär.
    Als meine Mutter sah, wie ich den Artikel las, begann sie wieder zu lächeln.
    »Ich glaube, damals warst du zwei«, sagte sie in einem verschwörerischen Ton. »Oder beinahe zwei. Und sie hatte viel helleres Haar als du. Du konntest es also nicht gewesen sein, nicht wahr? Außerdem war ich eine bessere Mutter als sie.«
    »Bestimmt«, sagte ich. »Du warst eine gute Mutter, einewunderbare Mutter. Mach dir keine Sorgen. Du hättest mich nie in Gefahr gebracht.«
    Meine Mutter wiegte sich hin und her und lächelte.
    »Leichtsinnig«, sagte sie leise. »Einfach leichtsinnig. Die hat so ein nettes kleines Mädchen gar nicht verdient, nicht wahr?«
    Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich war mir kalt.
    »Ich war keine schlechte Mutter, nicht wahr, Vianne?« fragte sie wie ein Kind.
    Mir lief ein Schauer über den Rücken. Das Zeitungspapier fühlte sich rauh an.
    »Nein«, versicherte ich ihr. »Du warst keine schlechte Mutter.«
    »Ich hab mich gut um dich gekümmert, stimmt’s? Ich hab dich nie weggegeben. Noch nicht mal, als dieser Priester gesagt hat … was er gesagt hat. Nie.«
    »Nein, Maman, nie.«
    Vor Kälte fühlte ich mich wie gelähmt, konnte kaum noch denken. Das einzige, was mir durch den Kopf ging, war der Name , dem meinen so ähnlich, die Daten  … Und erinnerte ich mich nicht auch an diesen Bären, diesen Elefanten, dessen Plüschfell so abgewetzt war, daß der rote Stoff überall durchschimmerte, den wir unermüdlich von Paris nach Rom, von Rom nach Wien mitschleppten?
    Natürlich konnte es sich um eine ihrer Angstphantasien handeln. Ebenso wie die Schlange im Bett und die Frau im Spiegel. Es konnte eine Selbsttäuschung sein. So vieles im Leben meiner Mutter basierte auf Selbsttäuschung. Und was spielte es für eine Rolle … nach so langer Zeit?
    Um drei stand ich auf. Das Bett war verschwitzt und zerwühlt; an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich zündete eine Kerze an und ging damit in Joséphines leeres Zimmer. Die Karten waren an ihrem alten Platz in der Schachtel meiner Mutter; sie fühlten sich glatt und kühl an, als ich sie herausnahm. Die Liebenden. Der Turm. Der Eremit. Der Tod . Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Holzboden undmischte die Karten. Den Turm mit den herabstürzenden Menschen, den bröckelnden Mauern, konnte ich deuten. Es ist meine ständige Angst vor der Vertreibung, die Angst vor der Straße, vor Verlust. Der Eremit mit seiner Kapuze und der Laterne erinnert mich an Reynaud, das blasse, verschlagene Gesicht halb versteckt im Schatten. Den Tod kenne ich sehr gut, und ich streckte automatisch Zeige- und Mittelfinger über der Karte aus … Sei gebannt! Aber die Liebenden? Ich dachte an Roux und Joséphine, die sich so ähnlich waren, ohne es zu wissen, und verspürte einen kurzen Stich der Eifersucht. Doch mit einemmal war ich davon überzeugt, daß die Karte noch nicht alle ihre Geheimnisse preisgegeben hatte. Im Zimmer duftete es nach Flieder. Vielleicht war eines von den Parfümfläschchen meiner Mutter nicht richtig verschlossen. Trotz der morgendlichen Kühle wurde mir ganz heiß. Roux? Roux.
    Hastig und mit zitternden Fingern drehte ich die Karte um.
    Noch ein Tag. Was immer es sein mag, kann noch einen Tag warten. Ich mischte die Karten erneut, aber ich bin nicht so versiert wie meine Mutter, und die Karten glitten mir aus den Händen und fielen auf den Boden. Der Eremit lag aufgedeckt. Im flackernden Kerzenlicht erinnerte er mich mehr denn je an Reynaud. Im Halbdunkel schien er boshaft zu grinsen. Ich werde einen Weg finden , versprach er mir hinterhältig. Du glaubst, du hättest gewonnen, aber ich werde dich kriegen . Ich spürte seine Bosheit in den Fingerspitzen.
    Meine Mutter hätte es als ein Zeichen

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