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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Tag.
    Letzte Nacht bin ich noch einmal aufgestanden und habe die Karten aus der Schachtel genommen, obwohl ich mir eigentlich fest vorgenommen hatte, sie nicht mehr anzurühren. Sie fühlten sich kühl an, kühl und glatt wie Elfenbein, zeigten sich in ihren bunten Farben, als ich sie auffächerte, und die vertrauten Bilder leuchteten nacheinander auf wie zwischen Glasscheiben gepreßte Blumen. Der Turm. Der Tod. Die Liebenden. Der Tod. Sechs Schwerter. Der Tod. Der Eremit. Der Tod . Ich sage mir, es hat nichts zu bedeuten. Meine Mutter glaubte an die Karten, aber was hat es ihr gebracht? Flucht, immer wieder Flucht. Die Wetterfahne auf dem Kirchturm schweigt, es herrscht eine fast unheimliche Stille. Der Wind hat sich gelegt. Die Stille beunruhigt mich mehr als das Quietschen des alten Eisens. Die Luft ist warm und duftet süß nach dem herannahenden Sommer. Der Sommer kommt schnell nach Lansquenet, folgt dem Märzwind auf dem Fuß, und er riecht nach Zirkus; nach Sägemehl und in heißem Fett brutzelndem Teig und frisch geschlagenem Holz und Pferdeäpfeln. Die Stimme meiner Mutter flüstert: Zeit zum Aufbruch . Bei Armande brennt noch Licht; ich kann das kleine gelbe Viereck ihres Fensters, das sich im Tannes widerspiegelt, von hier aus sehen. Ich frage mich, was sie gerade tut. Seit jenem ersten Mal hat sie nicht mehr mit mir über ihre Pläne gesprochen. Sie redet nur noch von Rezepten, erklärt mir, wie man einen Bisquitkuchen flambiert und welches für in Brandy eingelegte Kirschen das beste Verhältnis von Zucker zu Alkohol ist. Ich habe in meinem medizinischen Wörterbuch nachgelesen, was dort über Diabetes steht. Der Fachjargon ist auch eine Art Fluchtweg, dunkel und hypothetisch wie dieKarten. Unvorstellbar, daß diese Sprache sich auf menschliche Körper beziehen soll. Ihr Augenlicht läßt immer mehr nach, schwarze Flecken treiben über ihr Gesichtsfeld, so daß alles, was sie sieht, gescheckt und gesprenkelt und schließlich nicht mehr zu erkennen ist. Dann kommt die Dunkelheit.
    Ich verstehe ihre Situation. Warum sollte sie weiter um ein Leben kämpfen, das unweigerlich in der Dunkelheit endet? Ihr Vorhaben Verschwendung zu nennen – ein Begriff, den meine Mutter nach Jahren der Einschränkung und der Ungewißheit häufig benutzte –, ist hier sicherlich unangebracht, sage ich mir. Eine letzte verschwenderische Geste, ein riesiges Gelage, ein Feuerwerk und dann die totale Finsternis. Und doch schreit irgend etwas in mir: unfair! , die kindische Hoffnung auf ein Wunder. Auch das die Stimme meiner Mutter. Armande weiß es besser.
    Während der letzten Wochen – das Morphium beherrschte sie inzwischen Tag und Nacht, und ihre Augen waren nur noch glasig – verlor sie stundenlang den Bezug zur Wirklichkeit, flatterte von Hirngespinst zu Hirngespinst wie ein Schmetterling von einer Blume zur anderen. Manche waren lieblich, Träume von Schwerelosigkeit, von bunten Lichtern, von ätherischen Begegnungen mit längst verstorbenen Filmstars und Wesen von fernen Planeten. Manche waren schrecklich, düstere Angstträume. In denen war der Schwarze Mann immer präsent, lauerte an Straßenecken, saß in einem Diner am Fenster, hinter der Theke in einem Kramladen. Manchmal war er ein Taxifahrer; eine Baseballmütze tief in die Augen gezogen, saß er am Steuer in einem schwarzen Londoner Taxi, das aussah wie ein Leichenwagen. Auf die Mütze war das Wort DODGERS, Drückeberger, aufgestickt, sagte sie, und deswegen suche er nach ihr, nach uns, nach allen, die ihm schon einmal entwischt waren, aber man konnte ihm nicht für immer entkommen, sagte sie und schüttelte wissend den Kopf, niemals für immer. Einmal, während sie unter dem Bann eines solchen Verfolgungswahns stand, kramte sie eine gelbePlastikmappe hervor und zeigte sie mir. Sie war gefüllt mit Zeitungsausschnitten, überwiegend aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Die meisten waren auf französisch, andere auf italienisch, deutsch oder griechisch. In allen ging es um Entführungen, um verschwundene oder mißhandelte Kinder.
    »Es passiert so leicht«, sagte sie mir mit weit aufgerissenen Augen. »In großen Städten. Es passiert so leicht, daß man ein Kind wie dich verliert.« Sie zwinkerte mir erschöpft zu. Ich streichelte ihre Hand.
    »Ist schon in Ordnung, Maman«, sagte ich. »Du hast ja immer gut auf mich aufgepaßt. Mir ist nie etwas passiert.«
    Sie zwinkerte noch einmal.
    »Oh, aber du bist verlorengegangen «, sagte sie

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