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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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gedeutet.
    Plötzlich, einer spontanen Eingebung folgend, die ich nur halb begriff, nahm ich die Karte und hielt sie in die Kerzenflamme. Einen Moment lang umspielte die Flamme das harte Papier, dann begann es Blasen zu werfen. Das bleiche Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, dann wurde es schwarz.
    »Ich werd’s dir zeigen«, flüsterte ich. »Wag es, mir was anzutun, und ich –«
    Plötzlich loderten die Flammen bedrohlich auf, und ich ließ die Karte fallen. Das Feuer verlosch, und Funken und Asche stoben über die Dielen.
    Ich war in Hochstimmung.
    Wer wird jetzt die Veränderungen einläuten, Mutter?
    Und dennoch kann ich mich nicht gegen das Gefühl wehren, daß ich manipuliert wurde, daß ich mich habe drängen lassen, etwas zu offenbaren, was besser unberührt geblieben wäre. Ich habe doch nichts getan, sage ich mir. Ich hatte keine böse Absicht.
    Trotzdem will es mir nicht gelingen, den Gedanken zu verscheuchen. Ich fühle mich ganz leicht, körperlos wie Löwenzahnsamen. Bereit, mich mit dem Wind davontreiben zu lassen.
    Freitag, 28. März
    Karfreitag
    Ich müßte eigentlich bei meiner Herde sein, Vater. Ich weiß es. Die Luft in der Kirche ist schwer vom Weihrauch, es herrscht Grabesstimmung, alles ist mit schwarzen und violetten Tüchern verhängt, nicht eine einzige Blume ist geblieben. Ich müßte dort sein. Heute ist mein größter Tag, Vater, die Feierlichkeit, die Ehrfurcht, die Orgel, die wie eine Unterwasserglocke dröhnt – die Glocken selbst schweigen natürlich, aus Trauer über Christi Tod am Kreuz. Ich selbst in Schwarz und Violett, zur Begleitung der Orgel die Choräle anstimmend. Sie schauen mich mit großen, dunklen Augen an. Selbst die Abtrünnigen sind heute gekommen, ganz in Schwarz gekleidet und mit Pomade im Haar. Ihre Bedürftigkeit , ihre Erwartungen füllen die Leere in mir. Einen Augenblick lang empfinde ich echte Liebe; ich liebe sie wegen ihrer Sünden, wegen ihrer Erlösung, ihrer nichtigenSorgen, ihrer Bedeutungslosigkeit. Ich weiß, daß Sie mich verstehen, denn Sie sind auch ihr Vater gewesen. In gewissem Sinne sind Sie genauso für sie gestorben wie unser Herr Jesus. Um sie vor Ihren und ihren eigenen Sünden zu bewahren. Sie haben es nie erfahren, nicht wahr, Vater? Von mir jedenfalls nicht. Aber als ich Sie mit meiner Mutter in der Kanzlei entdeckt habe … Ein schwerer Schlaganfall, sagte der Arzt. Der Schock muß zu groß gewesen sein. Sie haben sich zurückgezogen. Sie haben sich in sich selbst zurückgezogen, doch ich weiß, daß Sie mich hören können, ich weiß, daß Sie klarer sehen als je zuvor. Und ich weiß, daß Sie eines Tages zu uns zurückkehren werden. Ich habe gefastet und gebetet, Vater. Ich habe mich in Demut geübt. Und dennoch fühle ich mich unwürdig. Es gibt immer noch eine Sache, die ich noch nicht erledigt habe.
    Nach der Messe kam ein Kind auf mich zu, Mathilde Arnauld. Sie nahm meine Hand und flüsterte:
    »Werden Sie Ihnen auch Schokoladeneier bringen, Monsieur le Curé ?«
    »Wer soll mir Schokoladeneier bringen?« fragte ich verblüfft.
    »Die Glocken natürlich!« Sie kicherte. »Die fliegenden Glocken!«
    »Ach so. Die Glocken. Natürlich.«
    Einen Augenblick lang war ich verwirrt und wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie zupfte ungeduldig an meiner Soutane.
    »Sie wissen doch, die Glocken . Sie fliegen nach Rom zum Papst und wenn sie zurückkommen, bringen sie Schokoladenostereier  –«
    Es ist zu einer fixen Idee geworden. Ein Refrain, ein geflüsterter Kehrreim, der jedem Gedanken folgt. Ich konnte meine Wut nicht beherrschen, und ihr erwartungsvolles Gesicht war plötzlich angstverzerrt. Ich brüllte: » Wieso kann plötzlich niemand mehr an etwas anderes als Schokolade denken? «, und das Kind rannte weinend über den Platz davon,während der kleine Laden mit seinem verlockend verhangenen Fenster mich triumphierend angrinste. Zu spät rief ich ihr nach.
    Heute abend werden Kinder aus der Gemeinde die letzten Augenblicke im Leben unseres Herrn Jesus nachspielen, eine symbolische Grablegung vollziehen und Kerzen anzünden, wenn es dunkel wird. Gewöhnlich ist dies für mich eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres, der Augenblick, in dem sie ganz mir gehören, meine Kinder, ganz ernst und ganz in Schwarz gekleidet. Aber werden sie auch in diesem Jahr an die Leidensgeschichte denken, an die Feierlichkeit der Eucharistie, oder wird ihnen vor lauter Vorfreude schon das Wasser im Mund zusammenlaufen? Ihre Geschichten –

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