Chocolat
Pfirsich, in Honig und Eau-de-Vie getränkt, mit einem Stückchen kandiertem Pfirsich auf der Schokoladenhülle. Ich schaue auf meine Uhr. Es bleibt immer noch Zeit.
Ich weiß, ich müßte jetzt eigentlich damit beginnen, meingerechtes Werk zu tun. Die Auslagen im Laden, so vielfältig und verwirrend sie sein mögen, reichen nicht aus, um die Hunderte von Bestellungen zu erfüllen, die bei ihr eingegangen sind. Es muß noch einen anderen Ort geben, wo sie ihre Präsentschachteln, ihre Vorräte aufbewahrt. Dies hier dient vor allem Ausstellungszwecken. Ich nehme eine Schokomandel, stecke sie in den Mund, um besser denken zu können. Dann ein Caramelfondant. Dann eine Champagnertrüffel mit einer zarten Hülle aus weißer Schokolade. Die Zeit ist zu kurz, um jede Sorte zu probieren … Ich bräuchte fünf Minuten, um meine Arbeit zu erledigen, vielleicht weniger. Hauptsache, ich finde heraus, wo sie ihre Vorräte aufbewahrt. Ich nehme noch eine Praline, bevor ich mich auf die Suche mache. Nur noch eine.
5.55 Uhr.
Es ist wie in meinem Traum. Ich wälze mich in Pralinen. Ich komme mir vor wie in einem Schokoladenfeld, an einem Schokoladenstrand, ich aale mich in Schokolade, wühle in Schokolade, verschlinge alles, was in meiner Reichweite ist. Ich habe keine Zeit, die Schilder zu lesen; wahllos stecke ich mir eine Praline nach der anderen in den Mund. Angesichts all dieser Köstlichkeiten verliert das Schwein seine Schläue, wird wieder zum Schwein, und obwohl etwas in mir schreit, ich soll aufhören, kann ich nicht mehr an mich halten. Nachdem ich einmal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Das hat nichts mit Hunger zu tun; ich zwinge alles hinunter, mit vollen Backen und vollen Händen. Einen schrecklichen Augenblick lang bilde ich mir ein, Armande sei zurückgekehrt, um mich heimzusuchen, um mich mit ihrem seltsamen Schicksal zu verfluchen; Tod durch Völlerei. Ich höre die Geräusche, die ich beim Essen mache, ein verzweifeltes, ekstatisches Stöhnen, als hätte das Schwein in mir endlich eine Stimme gefunden.
6.00 Uhr.
Er ist auferstanden ! Das Läuten der Glocken reißt mich aus meiner Verzückung. Ich sitze auf dem Boden, inmittenvon Pralinen, als hätte ich mich tatsächlich in ihnen gewälzt. Der Knüppel liegt neben mir, ich habe ihn vergessen. Die hinderliche Maske habe ich abgenommen. Das erste Morgenlicht fällt durch das enthüllte Schaufenster.
Er ist auferstanden ! Trunken richte ich mich auf. In fünf Minuten werden die ersten Gläubigen zur Messe kommen. Sie müssen mich bereits vermißt haben. Mit schokoladeverschmierten Fingern greife ich nach dem Knüppel. Plötzlich weiß ich, wo sie ihre Vorräte aufbewahrt. Der alte Keller, der kühle, trockene Keller, wo früher die Mehlsäcke gelagert wurden. Dorthin kann ich es schaffen. Ich weiß es.
Er ist auferstanden!
Den Knüppel in der Hand drehe ich mich um, ich habe keine Zeit mehr, keine Zeit …
Sie steht hinter dem Perlenvorhang und erwartet mich bereits. Ich habe keine Ahnung, wie lange sie mich schon beobachtet hat. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielt ihre Lippen. Ganz vorsichtig nimmt sie mir den Knüppel aus der Hand. Zwischen den Fingern hält sie etwas, das aussieht wie ein verbranntes Stück buntes Papier. Vielleicht eine Karte.
… Und so haben sie mich gesehen, Vater, auf den Knien in der zerstörten Auslage ihres Fensters, das Gesicht mit Schokolade verschmiert, die Augen gerötet. Wie aus dem Nichts schienen die Leute herbeizueilen, um ihr beizustehen. Duplessis mit seiner Hundeleine in der Hand hielt bei der Tür Wache. Die Hexe Rocher an der Hintertür mit meinem Knüppel im Arm. Arnauld von gegenüber, der schon früh in seiner Backstube gearbeitet hatte, rief die Neugierigen herbei, damit sie es alle sehen konnten. Die Clairmonts starrten mich an wie gestrandete Karpfen. Narcisse schüttelte seine Faust. Und das Gelächter. Mein Gott! Das Gelächter. Und die ganze Zeit läuteten die Glocken über dem Platz.
Er ist auferstanden .
Montag, 31. März
Ostermontag
Als die Glocken verstummten, schickte ich Reynauld fort. Die Messe las er nicht. Statt dessen rannte er ohne ein Wort nach Les Marauds hinunter. Kaum jemand hat ihm eine Träne nachgeweint. Wir begannen einfach ein bißchen früher mit dem Fest, es gab heiße Schokolade und Kuchen vor dem Laden, während ich in aller Eile den Schlamassel beseitigte. Zum Glück war es nicht so schlimm; ein paar Hundert Pralinen und Trüffel auf dem Boden, aber keine
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