Chocolat
Jahre bei ihm geblieben bin«, sagte sie tonlos, ihre Augen dunkel und haßerfüllt.
»Nein, das tue ich nicht.«
Sie ignorierte meine Antwort.
»Das bin ich tatsächlich«, sagte sie. »Dumm und schwach. Ich liebe ihn nicht – kann mich kaum erinnern, ihn je geliebt zu haben –, aber die Vorstellung, ihn zu verlassen …« Sie hielt verwirrt inne. »Ihn wirklich zu verlassen … «, wiederholte sie leise.
»Nein, es hat keinen Zweck.« Sie schaute mich an, und ihre Miene war entschlossen. »Deswegen kann ich nicht mehr mit Ihnen reden«, erklärte sie mir gefaßt. »Ich könnte Ihnen nichts vormachen – das haben Sie nicht verdient. Aber es geht nicht anders.«
»Doch«, widersprach ich. »Es geht anders.«
»Nein.« Sie wehrte sich verzweifelt und voller Bitterkeit gegen die Aussicht, Trost zu finden. »Verstehen Sie denn nicht? Ich bin nichts wert. Ich stehle. Ich habe Sie schon einmal belogen. Ich stehle immer wieder!«
»Ja. Ich weiß.«
Die Erkenntnis drehte sich lautlos zwischen uns wie eine Christbaumkugel.
»Dinge können sich ändern«, sagte ich schließlich. »Paul-Marie ist nicht allmächtig.«
»So kommt er mir aber vor«, erwiderte Joséphine trotzig.
Ich lächelte. Was könnte sie nicht alles erreichen, wenn sie diesen Trotz nicht nach innen, sondern nach außen richten würde. Ich könnte ihr helfen. Ich spürte ihre Gedanken, sie war mir so nah, sie war so offen. Es wäre so leicht, die Sache in die Hand zu nehmen. Ungehalten wehrte ich den Gedanken ab. Es stand mir nicht zu, sie zu einer Entscheidung zu zwingen.
»Bisher hatten Sie niemanden, an den Sie sich wenden konnten«, sagte ich. »Jetzt haben Sie jemanden.«
»Wirklich?« Aus ihrem Mund hörte es sich beinahe an wie das Eingeständnis, verloren zu haben.
Ich sagte nichts. Ich ließ sie ihre Frage selbst beantworten.
Eine Zeitlang schaute sie mich schweigend an. Die Lichter von Les Marauds spiegelten sich in ihren Augen. Erneut fiel mir auf, daß es kaum eines Aufwands bedurfte, und sie wäre eine Schönheit.
»Gute Nacht, Joséphine.«
Ich wandte mich nicht nach ihr um, aber ich wußte, daß sie mir nachschaute, als ich den Hügel hinaufging, undich bin mir sicher, daß sie noch lange dort gestanden und hinter mir hergeschaut hat, als ich schon längst um die Ecke gebogen und aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Mittwoch, 26. Februar
Der Regen scheint nicht enden zu wollen. Es ist, als würde ein Teil des Himmels ausgeleert, um die Erde mit Trübsal zu übergießen und in ein Aquarium zu verwandeln. Die Kinder, in ihren Regenjacken und Gummistiefeln wie bunte Plastikenten, watscheln lärmend durch die Pfützen auf dem Dorfplatz, wo ihr Geschrei von den niedrig hängenden Wolken widerhallt. Ich beobachte sie mit halbem Auge, während ich in der Küche arbeite. Heute morgen habe ich die Schaufensterdekoration abgebaut, die Hexe, das Lebkuchenhaus und all die Schokoladentiere, die die Szenerie bevölkerten, und Anouk und ihre Freunde machten sich zwischen ihren Ausflügen in die verregneten Gassen von Les Marauds gierig über die Süßigkeiten her. Mit leuchtenden Augen, ein Stück Lebkuchenhaus in jeder Hand, sah Jeannot Drou mir in der Küche bei der Arbeit zu. Hinter ihm stand Anouk, dahinter die anderen, lauter neugierige Augen und aufgeregtes Flüstern.
»Und jetzt?« fragt er mit einer für sein Alter tiefen Stimme, ein kleiner Maulheld mit Schokolade am Kinn. »Was kommt als nächstes ins Schaufenster?«
Ich zucke die Achseln.
»Das ist ein Geheimnis«, antworte ich, während ich crème de cacao in eine Emailschüssel mit geschmolzener Kuvertüre rühre.
»Och nee.« Er läßt nicht locker. »Es wird bestimmt was für Ostern. Eier und so ’n Zeugs. Schokoladenhühner, Osterhasen und so. Wie in den Läden in Agen.«
Erinnerungen aus meiner Kindheit; die Schaufenster der chocolateries in Paris mit Körben voller in bunte Folie gewickelter Ostereier, mit Armeen von Osterhasen, Hühnern, Glocken, Marzipanfrüchten, marrons glacés und amourettes und filigranen Nestern, gefüllt mit petits fours und Sahnebonbons, und tausendundeine Epiphanie aus Zuckerwattewolken, die eher an einen orientalischen Harem erinnerten als an die ernste Feierlichkeit der Fastenzeit.
»Meine Mutter hat mir früher die Geschichte von den Osterleckereien erzählt.« Wir hatten nie genug Geld, um diese erlesenen Sachen zu kaufen, aber ich bekam jedes Jahr ein cornet surprise , eine spitze Papiertüte mit Ostergeschenken: Münzen,
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