Chocolat
aussprechen. Sehen Sie, ich glaube an Wunder. Ich, der ich durch das Feuer gegangen bin. Ich glaube.
Ich hatte mir vorgenommen, heute mit ihr zu sprechen. Ganz sachlich, ohne ihr Vorwürfe zu machen, wie von Vater zu Tochter. Ich war mir sicher, daß sie mich verstehen würde. Unsere erste Begegnung hatte unter schlechten Vorzeichen gestanden. Aber ich dachte, wir könnten noch einmal von vorne anfangen. Sie sehen, Vater, ich war bereit, ihr entgegenzukommen. Bereit, Verständnis zu zeigen. Aber als ich auf den Laden zuging, sah ich, daß dieser Roux bei ihr war. Er fixierte mich mit seinen harten Augen und dem für seinesgleichen typischen spöttisch-arroganten Blick. In der Hand hielt er eine Tasse mit irgendeinem Getränk. Er wirkte gefährlich, regelrecht gewalttätig, in seinem schmutzigen Overall und mit seinen langen, ungepflegten Haaren, und einen Augenblick lang war ich um das Wohl der Frau besorgt. Ist ihr denn gar nicht klar, auf welche Gefahr sie sich einläßt, wenn sie mit diesen Leuten verkehrt? Sorgt sie sich denn nicht um sich und um ihr Kind? Ich wolltegerade kehrtmachen, als mir ein Plakat im Fenster auffiel. Eine Weile lang tat ich so, als würde ich es studieren, während ich sie – die beiden – heimlich beobachtete. Sie hatte ein weinrotes Kleid an, und sie trug ihr Haar offen. Ich hörte sie lachen.
Dann las ich, was auf dem Plakat stand. Es war in einer ungelenken Kinderschrift geschrieben.
GROSSES SCHOKOLADENFEST BEI
LA CÉLESTE PRALINE
BEGINN: OSTERSONNTAG
ALLE SIND EINGELADEN
Mit wachsendem Unwillen las ich es noch einmal. Drinnen war immer noch ihr Lachen und das Klappern von Geschirr zu hören. Sie war so in ihr Gespräch vertieft, daß sie mich noch gar nicht bemerkt hatte. Sie stand mit dem Rücken zur Tür, einen Fuß abgewinkelt wie eine Ballettänzerin. Sie trug flache Ballerinaschuhe mit kleinen Schleifen und keine Strümpfe.
BEGINN: OSTERSONNTAG
Jetzt wird mir alles klar.
Ihre Bosheit, ihre Gehässigkeit. Sie muß es von Anfang an geplant haben, dieses Schokoladenfest, und zwar ausgerechnet am höchsten kirchlichen Festtag. Seit dem Tag ihrer Ankunft zu Karneval muß sie es im Schilde geführt haben, um meine Autorität zu untergraben, um meine Lehre zu verspotten. Sie und ihre Freunde mit den Hausbooten.
Ich hätte mich auf dem Absatz umdrehen und gehen sollen, doch ich war zu aufgebracht und betrat den Laden. Ein höhnisches Geklingel ertönte, als ich die Tür öffnete, und sie drehte sich lächelnd zu mir um. Hätte ich nicht gerade erst mit eigenen Augen den unwiderlegbaren Beweis für ihre Niedertracht gesehen, ich hätte schwören können, daß das Lächeln echt war.
»Monsieur Reynaud.«
Im ganzen Laden duftet es nach Schokolade. Es riecht ganz anders als der lösliche Kakao, den ich als Junge getrunken habe, es ist ein schweres Aroma, so betörend wie von den frisch gerösteten Kaffeebohnen auf dem Markt, vermischt mit dem Duft von Amaretto und Tiramisu, ein kräftiger, rauchiger Wohlgeruch, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen läßt. Auf der Theke steht eine silberne, mit dem Gebräu gefüllte Kanne, aus der heißer Dampf aufsteigt. Mir wird bewußt, daß ich noch nicht gefrühstückt habe.
»Mademoiselle.« Ich wünschte, meine Stimme würde mehr Strenge ausdrücken. Aber die Wut schnürt mir die Kehle zu, und statt der Worte gerechten Zorns, die ich loslassen wollte, bringe ich nur ein empörtes Krächzen hervor, wie ein höflicher Frosch. »Mademoiselle Rocher.« Sie schaut mich fragend an. »Ich habe Ihr Plakat gesehen!«
»Das freut mich«, erwidert sie. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Nein!«
»Mein chococcino tut gut, wenn man einen rauhen Hals hat.«
»Ich habe keinen rauhen Hals!«
»Wirklich nicht?« fragt sie mit gespielter Besorgnis. »Ich hatte den Eindruck, Sie seien ein bißchen heiser. Möchten Sie vielleicht lieber einen grand crème ? Oder einen Mokka?«
Mit Mühe gewinne ich die Fassung wieder.
»Danke, ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
Der Rothaarige neben ihr lacht leise in sich hinein und murmelt irgend etwas in seiner Gossensprache. Mir fallen Farbspuren an seinen Händen auf, feine, weiße Linien an den Knöcheln und Handflächen. Hat er irgendwo Arbeit gefunden? frage ich mich beunruhigt. Und falls ja, bei wem? Wenn wir in Marseille wären, würde er wegen Schwarzarbeit verhaftet werden. Eine Hausdurchsuchung auf seinem Boot würde genug Beweise zutage fördern – Drogen, Diebesgut,
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