Chocolat
ich am Fluß entlanggehen, Vater, und mir das schwimmende Dorf ansehen, das immer größer wird, das sich immer weiter auf dem Tannes ausbreitet. Seit meinem letzten Besuch sind noch mehr Boote eingetroffen, und der Fluß ist regelrecht mit ihnen gepflastert. Man könnte trockenen Fußes von einem Ufer zum anderen gehen.
ALLE SIND EINGELADEN.
Ist es das, was sie beabsichtigt? Will sie diese Leute anlocken, der Ausschweifung Vorschub leisten? Wie hart haben wir gekämpft, um diese heidnischen Traditionen auszumerzen, Vater, wie leidenschaftlich haben wir gepredigt. Das Osterei, den Osterhasen, diese immer noch lebendigen Symbole des Heidentums entlarvt. Eine Zeitlang waren wir makellos. Aber sie zwingt uns, von neuem mit der Säuberung zu beginnen. Diesmal sind sie stärker, bieten uns einmal mehr die Stirn. Und meine Herde, meine dumme, vertrauensselige Herde, wendet sich ihr zu, hört auf ihre Worte … Armande Voizin. Michel Narcisse. Guillaume Duplessis. Joséphine Muscat. Georges Clairmont. Morgen in der Predigt werde ich die Namen aller nennen, die auf sie hören. Ich werde ihnen sagen, daß das Schokoladenfest nur ein Teil des sündigen Ganzen ist. Ihre Freundschaft mit den Zigeunern. Ihre Verachtung für unsere Sitten und Bräuche. Ihr Einfluß auf unsere Kinder. All dies sind Anzeichen für die verderblichen Auswirkungen ihrer Anwesenheit.
Ihr Fest wird nicht stattfinden. Lächerlich, anzunehmen, daß sie damit durchkommen kann, wenn sie mit so viel Widerstand rechnen muß. Ich werde jeden Sonntag in meiner Predigt gegen das Fest wettern. Ich werde die Namen der Kollaborateure laut vorlesen und für ihre Erlösung beten. Die Zigeuner haben jetzt schon Unruhe in die Gemeinde gebracht. Muscat beschwert sich, daß sie ihm die Kunden vergraulen. Der Lärm von ihren Booten, die Musik, die Feuer haben Les Marauds in eine schwimmende Holzbudenstadt verwandelt, der Tannes ist mit einem glänzenden Ölfilm überzogen, und lauter Abfall treibt den Fluß hinunter. Und seine Frau wollte sie tatsächlich in ihrem Café freundlich bedienen, wie ich höre. Zum Glück läßt Muscat sich von diesen Leuten nicht einschüchtern. Clairmont hat mir erzählt, er hat sie sofort rausgeworfen, als sie es letzte Woche gewagt haben, sein Café zu betreten. Sie sehen also, mon père , sie sind Feiglinge, auch wenn sie noch so großspurig auftreten. Muscat hat den Weg, der nach Les Marauds hinunterführt, blockiert, damit sie nicht mehr ins Dorf kommen. Im Moment sind sie noch vorsichtig, legen eine Verschlagenheit an den Tag, die für diese Leute typisch ist, jederzeit bereit, die geringste Schwäche auszunutzen. Aber wie alle Aasfresser sind sie nur mutig, solange sie sich auf ihrem eigenen Territorium bewegen. Vier von ihnen haben die Flucht ergriffen – unter ihnen Roux –, anstatt sich einem offenen Kampf mit Muscat zu stellen. Ich verabscheue Gewalt, Vater, aber im Moment würde ich sie begrüßen. Dann hätte ich einen Vorwand, die Polizei aus Agen kommen zu lassen. Ich werde noch einmal mit Muscat reden. Er wird wissen, was zu tun ist.
Samstag, 1. März
Roux’ Boot gehört zu den unmittelbar am Flußufer liegenden, etwas abseits von den anderen Booten und ist direkt Armandes Haus gegenüber vertäut. Heute war es mit Papierlampions geschmückt, die wie leuchtende Früchte am Bug aufgehängt waren, und auf unserem Weg die steile Straße nach Les Marauds hinunter stieg uns schon von weitem der scharfe Duft von gegrilltem Fleisch in die Nase. Armandes Fenster standen weit offen, und das Licht aus dem Haus warf unregelmäßige Muster auf das Wasser. Mir fiel auf, daß keinerlei Müll herumlag, wie sorgfältig selbst der kleinste Abfall eingesammelt und zum Verbrennen in die großen Blechtonnen geworfen wurde. Von einem der Boote weiter flußabwärts war Gitarrenmusik zu hören. Roux saß auf der kleinen Mole und schaute ins Wasser. Ein paar von seinen Freunden hatten sich bereits zu ihm gesellt, unter ihnen Zézette, eine junge Frau namens Blanche und Mamhed, der Nordafrikaner. Neben ihnen brutzelte etwas auf einem tragbaren Kohlegrill.
Anouk rannte sofort auf das Feuer zu. Ich hörte, wie Zézette sie mit sanfter Stimme warnte: »Vorsichtig, Liebes, das ist heiß.«
Blanche reichte mir eine mit Glühwein gefüllte Henkeltasse, die ich lächelnd entgegennahm.
»Probieren Sie mal.«
Der Wein war süß und kräftig, mit Zitrone und Muskat gewürzt, und so stark, daß er in der Kehle brannte. Zum erstenmal seit Wochen
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