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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Liebes, New York, Chicago, der Grand Canyon, es gibt so viel zu sehen!  –, ihr leises Wimmern in der Nacht.
    »Irgendwann muß man einfach aufhören«, sagte ich. »Es ist zwecklos. Man versteckt sich hinter Rechtfertigungen, setzt sich nur noch kurzfristige Ziele, um die Woche zu überstehen. Irgendwann ist der Verlust der Würde schlimmer als alles andere. Irgendwann braucht man einfach Ruhe.«
    In New York eingeäschert, die Asche im Hafen verstreut. Komisch, daß man sich immer vorstellt, man würde im Bett sterben, umgeben von seinen Lieben. Statt dessen, viel zu häufig, die kurze, verwirrende Begegnung, die plötzliche Erkenntnis, die zeitlupenartige, panische Flucht vor dem Hintergrund der aufgehenden Sonne, die wie ein Pendel auf einen zuschwingt, egal wie schnell man versucht, vor ihr davonzurennen.
    »Wenn ich die Wahl hätte, wüßte ich, wie ich mich entscheiden würde. Die schmerzlose Spritze. Die freundliche Hand. Besser so, als mitten in der Nacht auf der Straße unter die Räder eines Taxis zu geraten, wo keiner stehenbleibt und sich darum kümmert.« Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich laut gesprochen hatte. »Verzeihen Sie, Guillaume«, sagte ich, als ich sein entsetztes Gesicht sah. »Ich habe an jemand anderen gedacht.«
    »Ist schon in Ordnung«, sagte er ruhig, während er ein paar Münzen auf die Theke legte. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
    Dann hob er Charly auf, nahm seinen Hut und ging, ein wenig gebeugter als gewöhnlich, eine kleine, unscheinbare Gestalt mit einem Bündel unter dem Arm, das genausogut eine Tüte mit Einkäufen, ein alter Regenmantel oder etwas ganz anderes hätte sein können.
    Samstag, 1. März
    Ich beobachte ihren Laden. Ich gebe zu, daß ich das tue, seit sie im Dorf angekommen ist; ich sehe, wer ein- und ausgeht, wer sich Zeit nimmt, um mit ihr zu plaudern. Ich beobachte das Treiben in ihrem Laden, so wie ich als Junge das Gewimmel in einem Wespennest verfolgt habe, fasziniert und abgestoßen zugleich. Anfangs gingen sie klammheimlich hin, in der Abenddämmerung oder früh am Morgen. Taten so, als seien sie ganz normale Kunden. Hier eine Tasse Kaffee, dort eine Tüte Süßigkeiten für die Kinder. Aber jetzt ist die Heimlichtuerei vorbei. Die Zigeuner gehen inzwischen ganz selbstverständlich in ihren Laden, starren im Vorbeigehen herausfordernd in mein Fenster; der Rothaarige mit dem arroganten Blick, die magere junge Frau und das junge Mädchen mit den gebleichten Haaren und der Araber mit dem kahlgeschorenen Schädel. Sie kennt sogar ihre Namen; Roux und Zézette und Blanche und Mamhed. Gestern hat der Lieferwagen von Clairmont Baumaterial bei ihr abgeladen; Holz und Farbe und Dachpappe. Der Fahrer hat das Material wortlos vor ihre Tür gestapelt. Sie hat ihm einen Scheck ausgestellt. Und dann mußte ich zusehen, wie ihre Freunde die Kisten und Kartons und Eimer grinsend auf ihre Schultern packten und sie nach Les Marauds abtransportierten. Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Ein perfides, abgekartetes Spiel. Aus irgendeinem Grund ist sie entschlossen, sie zu unterstützen. Das macht sie natürlich nur, um mir eins auszuwischen. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als würdevoll zu schweigen und dafür zu beten, daß sie scheitert. Aber sie macht meine Aufgabe so viel schwerer! Schlimm genug, daß ich mich um Armande Voizin kümmern muß, die ihnen auf ihre Rechnung Lebensmittel kauft. Leider bin ich zu spät eingeschritten. Die Zigeuner haben sich inzwischen mit genug Vorräten für mindestens zwei Wochen eingedeckt. Was sie für den täglichen Bedarf anfrischen Lebensmitteln brauchen – Brot und Milch –, besorgen sie sich flußaufwärts in Agen. Bei dem Gedanken, daß sie noch länger bleiben könnten, kommt mir die Galle hoch. Aber was soll ich tun, wenn diese Leute sich auch noch mit ihnen anfreunden? Sie könnten mir sagen, was ich tun soll, Vater, wenn Sie nur sprechen könnten. Und ich weiß, Sie würden ohne zu zögern Ihre Pflicht tun, wie unangenehm sie auch sein möchte. Wenn Sie mir nur sagen könnten, was ich tun soll. Ein leichter Händedruck würde mir genügen. Ein Zucken mit den Augenlidern. Irgend etwas, das mir zeigte, daß mir vergeben wird.
    Nein? Sie rühren sich nicht. Nur das schwerfällige Zischen der Maschine, die Sie am Leben hält, indem sie Sauerstoff in Ihre geschundenen Lungen pumpt. Ich weiß, daß Sie schon bald aufwachen werden, geheilt und geläutert, und daß mein Name das erste Wort sein wird, das Sie

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