Chocolat
dumme Gans.«
Ich riet ihr, besser auf ihre Gesundheit zu achten.
Armande schnaubte verächtlich.
»Wenn man erst mal in meinem Alter ist«, sagte sie, »geht es los mit den Zipperlein. Dauernd hat man irgendwas anderes. So ist das nun mal im Leben.« Sie nahm noch einenSchluck von dem bitteren Kaffee. »Mit sechzehn Jahren hat Rimbaud erklärt, er wolle soviel wie möglich so intensiv wie möglich erleben. Nun, ich gehe auf die Achtzig zu, und langsam komme ich zu dem Schluß, daß er recht hatte.« Sie grinste, und ich war überrascht, wie jugendlich ihr Gesicht wirkte. Eine Jugendlichkeit, die weniger mit der Hautfarbe oder den Konturen zu tun hat, als vielmehr mit einer inneren Lebensfreude; es war der Blick einer Frau, die gerade erst dabei ist, zu entdecken, was das Leben zu bieten hat.
»Ich schätze, Sie sind zu alt, um in die Fremdenlegion einzutreten«, sagte ich lächelnd. »Und hat Rimbaud damals nicht auch zu Exzessen geneigt?«
Armande grinste mich spitzbübisch an.
»Richtig«, erwiderte sie. »Ein paar Exzesse könnte ich auch gebrauchen. Von jetzt an werde ich unmäßig sein – und launenhaft –, ich werde laute Musik hören und schauerliche Gedichte lesen. Ich werde zügellos sein«, erklärte sie selbstzufrieden.
Ich mußte lachen.
»Sie sind wirklich unglaublich«, sagte ich mit gespieltem Ernst. »Kein Wunder, daß Sie Ihre Angehörigen zur Verzweiflung bringen.«
Aber obwohl sie mit mir lachte und ausgelassen in ihrem Schaukelstuhl wippte, erinnere ich mich heute weniger an ihr Lachen, als an das, was hinter dem Lachen durchschimmerte, diesen Anflug von Leichtsinn und Übermut.
Und erst später, als ich mitten in der Nacht aus einem Alptraum erwachte, an den ich mich kaum erinnern konnte, wußte ich, wo ich diesen Blick schon einmal gesehen hatte.
Wie wär’s mir Florida, Liebes? Die Everglades? Die Keys? Was hältst du von Disneyland, chérie, oder New York, Chicago, dem Grand Canyon, Chinatown, New Mexico, den Rocky Mountains?
Aber Armande fehlte die Angst, von der meine Mutter getrieben wurde, das verzweifelte Ringen mit dem Tod, dieFlucht in immmer wieder neue Phantasiereisen. Bei Armande spürte ich nur den Hunger, die Gier, das schreckliche Bewußtsein der Vergänglichkeit.
Ich fragte mich, was der Arzt ihr an diesem Morgen tatsächlich gesagt hatte, und wieviel sie wirklich begriff. Noch lange lag ich wach und grübelte über alles nach, und als ich endlich einschlief, träumte ich, ich sei mit Armande in Disneyland, wo Reynaud und Caro uns Hand in Hand entgegenkamen, sie als die Rote Königin und er als der Weiße Hase aus Alice im Wunderland verkleidet, beide mit großen weißen Handschuhen wie die Hände von Comicfiguren. Caro trug eine rote Krone auf ihrem riesigen Kopf, und Armande hatte in jeder Hand einen Stiel mit Zuckerwatte.
Von irgendwo aus der Ferne hörte ich die New Yorker Verkehrsgeräusche näher kommen, das laute Hupen der Taxis.
» Um Gottes willen, iß das nicht, das ist giftig «, kreischte Reynaud, aber Armande stopfte sich mit beiden Händen gierig die Zuckerwatte in den Mund. Ich versuchte, sie vor dem Taxi zu warnen, doch sie schaute mich nur an und sagte mit der Stimme meiner Mutter: »Das Leben ist ein Fest, chérie , jedes Jahr sterben mehr Menschen im Straßenverkehr, das ist statistisch erwiesen.« Dann machte sie sich wieder auf diese schreckliche, gefräßige Art über die Zuckerwatte her, und Reynaud wandte sich mir zu und kreischte mit einer Stimme, die wegen ihrer schrillen Höhe um so bedrohlicher klang:
» Das ist alles deine Schuld! Du mit deinem Schokoladenfest! Alles war in Ordnung, bis du aufgetaucht bist, und jetzt sterben alle – sie STERBEN STERBEN STERBEN … « Ich streckte abwehrend die Hände aus.
»Es ist nicht meine Schuld«, flüsterte ich, »sondern deine . Du bist der Schwarze Mann, du bist –« Und dann stürzte ich rückwärts durch den Spiegel, und die Karten flogen in alle Richtungen um mich herum – Neun Schwerter, DER TOD. Drei Schwerter, DER TOD. Der Turm, DER TOD. Der Wagen, DER TOD .
Ich wachte schreiend auf. Anouk stand über mir, das Gesicht schlafverquollen und angsterfüllt.
»Maman, was ist los?«
Ihre Arme legen sich warm um meinen Hals. Sie riecht nach Schokolade und Vanille und friedlichem Schlaf.
»Nichts. Ich hab nur geträumt. Weiter nichts.«
Sie tröstet mich mit ihrer sanften Kinderstimme, und ich komme mir vor wie in einer verkehrten Welt, als würde ich in ihr versinken wie eine
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