Chocolat
»Schlimm genug, daß man in aller Herrgottsfrühe von diesem Glockengebimmel geweckt wird, da fehlt es mir gerade noch, daß ich mir als erstes Caros scheinheiliges Gesicht ansehen muß. Wir beten jeden Tag für dich, Mutter «, äffte sie Caroline nach. » Wir möchten, daß du verstehst, warum wir uns solche Sorgen um dich machen . In Wirklichkeit sind sie um ihren guten Ruf im Dorf besorgt. Es ist einfach peinlich, eine Mutter wie mich zu haben, die einen immer wieder daran erinnert, woher man kommt.«
Sie lächelte zugleich zufrieden und verbittert vor sich hin.
»Solange ich lebe, wissen sie, daß es jemanden gibt, der sich an alles erinnert«, sagte sie. »Die Schwierigkeiten, die sie bekam, nachdem sie sich mit diesem Jungen eingelassen hatte. Wer hat denn dafür bezahlt, hä? Und er – Reynaud,der Mann mit der blütenweißen Weste …« Ihre Augen funkelten boshaft. »Ich wette, ich bin die einzige, die sich noch an diese alte Geschichte erinnert. Es hat sowieso kaum jemand gewußt, damals. Es hätte der größte Skandal im Land werden können, wenn ich meinen Mund nicht gehalten hätte.« Sie warf mir einen verschmitzten Blick zu. »Und schauen Sie mich bloß nicht so an, junge Frau. Ich kann immer noch ein Geheimnis für mich behalten. Was glauben Sie, warum er mich in Ruhe läßt? Er könnte eine Menge unternehmen, wenn er wollte. Caro hat’s schon probiert.« Armande kicherte schadenfroh in sich hinein.
»Ich dachte, Reynaud sei nicht von hier«, sagte ich neugierig.
Armande schüttelte den Kopf.
»Kaum jemand erinnert sich daran«, sagte sie. »Er ist aus Lansquenet weggegangen, als er noch ein Junge war. Es war für alle Beteiligten besser so.« Einen Moment lang hing sie ihren Erinnerungen nach. »Aber diesmal soll er sich in acht nehmen«, fuhr sie düster fort. »Er soll es nicht wagen, etwas gegen Roux oder seine Freunde zu unternehmen.« Der Humor war verschwunden; sie wirkte mit einemmal älter, zänkisch, krank. »Ich freue mich, daß sie hier sind«, erklärte sie mit zittriger Stimme. »In ihrer Gegenwart fühle ich mich wieder jung.« Die knochigen kleinen Hände zupften nervös an der Stickerei in ihrem Schoß herum. Die Katze wachte durch die Bewegung auf und sprang schnurrend auf ihren Schoß. Als Armande ihr den Kopf kraulte, langte sie verspielt mit der Pfote nach ihrem Kinn.
»Lariflete«, sagte Armande. Nach einer Weile wurde mir klar, daß das der Name der Katze war. »Ich habe sie schon neunzehn Jahre. In Katzenjahren ist sie also fast genauso alt wie ich.« Sie schnalzte mit der Zunge, und die Katze schnurrte noch lauter. »Angeblich habe ich eine Allergie«, sagte Armande. »Asthma oder so was. Ich hab ihnen gesagt, daß ich lieber ersticken würde, als mich von meinen Katzen zu trennen. Allerdings gibt es einige Menschen , auf die ich gutund gerne verzichten könnte.« Lariflete rollte sich zufrieden auf Armandes Schoß zusammen. Ich schaute zum Fluß hinunter und sah Anouk mit zwei schwarzhaarigen Kindern an der Mole spielen. Anouk, die jüngste von den dreien, schien das Kommando übernommen zu haben.
»Bleiben Sie doch zum Kaffee«, schlug Armande vor. »Ich wollte sowieso welchen aufsetzen. Ich hab auch Limonade für Anouk.«
Ich ging in Armandes kleine, niedrige Küche mit dem gußeisernen Herd und setzte den Kaffee selbst auf. Alles ist blitzblank, doch durch das einzige winzige Fenster, das zum Fluß hinausgeht, fällt grünliches Licht herein, so daß eine Atmosphäre entsteht wie unter Wasser. Von den dunklen Deckenbalken baumeln Baumwollsäckchen mit getrockneten Kräutern. An den weißgetünchten Wänden hängen kupferne Pfannen und Töpfe an eisernen Haken. In die Tür ist – wie in alle Türen im Haus – am unteren Rand ein Loch gesägt, damit die Katzen sich überall frei bewegen können. Eine Katze saß auf dem Küchenschrank und beobachtete mich, während ich in einer emaillierten Blechkanne den Kaffee aufbrühte. Mir fiel auf, daß die Limonade zuckerfrei war, und in der Zuckerdose befand sich Süßstoff. Trotz ihrer gespielten Tapferkeit scheint sie doch gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
»Ekliges Zeug«, kommentierte sie ohne Groll, während sie ihren Kaffee aus einer ihrer handbemalten Tassen schlürfte. »Es heißt, man schmecke den Unterschied nicht. Aber man schmeckt es doch.« Sie zog eine Grimasse. »Caro bringt es immer mit, wenn sie kommt. Sie kontrolliert meinen Küchenschrank. Wahrscheinlich meint sie es gut. Sie ist eben eine
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