Chocolat
Meeresschnecke in ihrem Gehäuse, als würde ich mich um mich selbst drehen, während ihre Hand kühl auf meiner Stirn liegt, ihr Mund in meinem Haar.
» Fort-fort-fort «, murmelt sie mechanisch. » Böser Geist, mach dich davon . Jetzt ist es gut, Maman. Es ist alles fort.« Ich weiß nicht, wo sie diese Dinge aufschnappt. Meine Mutter sagte solche Dinge, aber ich kann mich nicht erinnern, sie Anouk je beigebracht zu haben. Und doch benutzt sie sie wie vertraute Formeln. Einen Moment lang klammere ich mich an sie, vor Liebe wie gelähmt.
»Es wird alles gut, nicht wahr, Anouk?«
»Na klar.« Ihre Stimme klingt klar und erwachsen und selbstsicher. »Klar wird alles gut.« Sie legt ihren Kopf an meine Schulter und kuschelt sich an mich. »Ich hab dich lieb, Maman.«
Draußen zeigen sich die ersten Streifen der Dämmerung am Horizont. Ich halte meine Tochter fest in den Armen, während sie wieder einschläft, und ihr Locken kitzeln mich im Gesicht. Ist es das, wovor meine Mutter sich immer fürchtete? Ich frage mich, während ich dem Zwitschern der Vögel lausche – zuerst ein einzelnes Krah-krah , dann ein ganzes Konzert –, ist es das, wovor sie flüchtete? Nicht ihr eigener Tod, sondern die zahllosen Begegnungen mit anderen Menschen, die abgebrochenen Kontakte, die ungewollt entstehenden Bindungen, die Verantwortung ? Sind wir all die Jahre vor unseren Gefühlen davongelaufen, vor unserenFreundschaften, den beiläufig ausgesprochenen Worten, die ein Leben verändern können?
Ich versuche, mich an meinen Traum zu erinnern, an Reynauds Blick – den verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht, ich komme zu spät, ich komme zu spät –, auch er auf der Flucht vor einem unvorstellbaren Schicksal, zu dessen Teil ich unabsichtlich geworden bin. Aber der Traum hat sich aufgelöst, seine Teile haben sich wie Karten im Wind zerstreut. Schwer zu sagen, ob der Schwarze Mann der Verfolger oder der Verfolgte ist. Schwer zu sagen, ob er wirklich der Schwarze Mann ist. Statt dessen sehe ich wieder das Gesicht des weißen Kaninchens vor mir – wie das Gesicht eines ängstlichen Kindes auf einem Karussell, das verzweifelt versucht auszusteigen.
»Wer läutet die Veränderungen ein?«
In meiner Verwirrung halte ich die Stimme für die eines anderen; eine Sekunde später begreife ich, daß ich laut gesprochen habe. Aber als ich wieder in den Schlaf sinke, bin ich mir fast sicher, daß ich eine andere Stimme antworten höre, eine Stimme, die mich sowohl an Armande als auch an meine Mutter erinnert.
Du, Vianne , sagt sie sanft.
Du.
Dienstag, 4. März
Das erste Grün auf den Feldern macht die Landschaft lieblicher, als wir beide es gewohnt sind. Von weitem wirkt es üppig und saftig – ein paar frühe Bienen sticheln die Luft über den zarten Halmen, so daß die Felder wie schlaftrunken wirken. Aber wir wissen, daß in zwei Monaten nur noch Stoppeln übrig sein werden, verbrannt von der Sonne, die Erde ausgedörrt und aufgesprungen, eine rote Kruste, aufder nur noch Disteln wachsen. Ein heißer Wind fegt alles weg, was an fruchtbarem Boden noch übrig ist, und bringt Dürre ins Land, und darauf folgt eine stickige Windstille, in der Krankheiten gedeihen. Ich erinnere mich noch an den Sommer 1975 , mon père , an die glühende Hitze und den heißen weißen Himmel. In jenem Sommer folgte Plage auf Plage. Zuerst die Zigeuner, die in ihren schmuddeligen Booten über den halb ausgetrockneten Fluß angekrochen kamen und in Les Marauds im Schlamm auf Grund liefen. Und dann die Krankheit, die erst ihre Tiere und dann die unsrigen befiel; eine Art Wahnsinn. Zuerst verdrehten sie die Augen, zuckten hilflos mit den Beinen, weigerten sich trotz ihrer aufgedunsenen Körper zu trinken, schließlich begannen sie zu schwitzen und zu zittern und verendeten unter Wolken von schwarzen Fliegen, o Gott, es lag ein Gestank in der Luft, durchdringend und süßlich wie von verfaulendem Obst. Erinnern Sie sich? Das war der Sommer, als Sie hierherkamen, Vater. So heiß, daß die wilden Tiere aus dem ausgetrockneten Sumpf bis an den Fluß kamen. Füchse, Iltisse, Wiesel, Hunde. Die meisten tollwütig, vom Hunger und Durst aus ihren angestammten Revieren getrieben. Wir schossen sie ab, wenn sie auf das Ufer zuwankten, schossen sie ab oder töteten sie mit Steinen. Die Kinder bewarfen auch die Zigeuner mit Steinen, aber sie waren genauso gefangen und verzweifelt wie die Tiere und kamen immer wieder zurück. Die Luft war schwarz vor Fliegen und
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