Chocolat
Kirche zu unterminieren – um meine Autorität zu unterminieren …Meine Würde ist bereits in Frage gestellt. Ich wage nicht, noch weiter zu gehen. Und mit jedem Tag wächst ihr Einfluß. Teilweise liegt es an dem Laden. Halb Café, halb confiserie , hat er etwas Einladendes, etwas Gemütliches. Die Kinder sind ganz verrückt nach den Schokoladenfiguren, die sie sich von ihrem Taschengeld leisten können. Die Erwachsenen genießen die leicht verruchte Atmosphäre, in der man sich Geheimnisse zuflüstert und gegenseitig das Herz ausschüttet. Mehrere Familien haben angefangen, für den Sonntagskaffee Kuchen bei ihr zu bestellen; ich sehe genau, wenn sie nach der Messe die mit Schleifen zugebundenen Schachteln abholen. Noch nie haben die Einwohner von Lansquenet-sous-Tannes soviel Schokolade gegessen. Gestern hat Toinette Arnauld sogar im Beichtstuhl genascht! Ihr Atem roch nach Schokolade, aber als Beichtvater war ich gezwungen, die Anonymität zu respektieren.
» Schegnen Sie misch, Vater, denn isch habe geschündigt .« Ich hörte sie kauen, hörte das saugende Geräusch zwischen ihren Zähnen. Blanke Wut stieg in mir auf, als sie eine lange Reihe von läßlichen Sünden beichtete, die ich kaum hörte, während der Duft von Schokolade und Karamel in dem engen Raum immer intensiver wurde. Sie sprach mit vollem Mund, und ich spürte, wie mir das Wasser auf der Zunge zusammenlief. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten.
»Essen Sie etwa gerade etwas?« fuhr ich sie an.
»Nein, Vater«, erwiderte sie beinahe empört. »Essen? Warum sollte ich –«
»Ich bin sicher , daß ich Sie essen höre.« Ich machte mir nicht die Mühe, leise zu sprechen, sondern erhob mich von meinem Stuhl und umklammerte den Sims mit beiden Händen. »Für was halten Sie mich eigentlich, für einen Trottel?« Schon wieder hörte ich ein schmatzendes Geräusch, und die Wut übermannte mich vollends. »Ich höre Sie essen, Madame«, sagte ich scharf. »Oder glauben Sie etwa, Sie seien weder zu sehen noch zu hören?«
» Mon père , ich versichere Ihnen –«
»Schweigen Sie, Madame Arnauld, bevor Sie sich in weitere Lügen verstricken!« donnerte ich, und plötzlich war der Schokoladenduft verschwunden, es war kein Schmatzen mehr zu hören, sondern nur ein unterdrücktes Schluchzen und panisches Rascheln, als sie aus dem Beichtstuhl flüchtete. Mit ihren hohen Absätzen wäre sie beinahe ausgerutscht, als sie aus der Kirche rannte.
Allein im Beichtstuhl, versuchte ich, mich an den Duft, die Geräusche zu erinnern, an die Empörung, die ich empfunden hatte, meinen gerechten Zorn. Doch als die Dunkelheit mich umfing, als die Luft anstatt nach Schokolade nur noch nach Weihrauch und Kerzen duftete, kamen mir Zweifel. Und dann wurde mir das Absurde an der ganzen Situation bewußt, und ich bekam fast einen Lachkrampf, der mich zugleich verblüffte und ängstigte. Am Ende war ich verwirrt und naßgeschwitzt, mein Magen rebellierte. Der plötzliche Gedanke, daß sie die einzige wäre, die das Komische an der Situation erkennen würde, reichte aus, um mir den Magen von neuem umzudrehen, und ich war gezwungen, mich wegen leichter Übelkeit zu entschuldigen und die Beichte abzubrechen. Mit unsicheren Schritten ging ich zurück in die Sakristei, und ich bemerkte, wie mehrere Leute mich merkwürdig ansahen. Ich muß vorsichtiger sein. In Lansquenet wird zuviel geklatscht.
Seitdem herrscht einigermaßen Ruhe. Ich führe meinen Ausbruch im Beichtstuhl auf ein leichtes Fieber zurück, das mich während der Nacht schüttelte. Auf jeden Fall ist es nicht wieder vorgekommen. Als Vorsichtsmaßnahme habe ich meine Abendmahlzeiten noch weiter reduziert, um die Verdauungsstörungen zu vermeiden, die den Vorfall möglicherweise verursacht haben. Dennoch spüre ich um mich herum eine gewisse Unsicherheit – beinahe so etwas wie gespannte Erwartung. Der Wind macht die Kinder ausgelassen, sie rennen mit ausgestreckten Armen auf demDorfplatz herum und kreischen wie Vögel. Auch die Erwachsenen wirken flatterhaft, fallen von einem Extrem ins andere. Die Frauen reden zu laut, nur um verlegen zu schweigen, sobald ich auftauche; manche sind dauernd den Tränen nahe, andere aggressiv. Heute morgen sprach ich Joséphine Muscat vor dem Café de la République an, und diese sonst so stille, einsilbige Frau starrte mich wütend an und begann mich mit zitternder Stimme zu beschimpfen und zu beleidigen.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, zischte sie. »Haben Sie
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