Cholerabrunnen
jemanden da drinnen verloren? Mein Mann war Brandschutzhelfer und soll da unten liegen. Gefunden haben sie ihn immer noch nicht!“
Ihr Mann. Er schluckt. So alt und doch noch Hoffnung? Dann sieht er, wie sie einen der Bauarbeiter jenseits des Zaunes heranwinkt.
„Hallo, haben Sie das Kreuz noch hier?“
Der nickt und mustert die Frau, natürlich auch Mauersberger, doch der tut unbeteiligt. Dann steckt die Frau dem Bauarbeiter einen Zehnmarkschein zu und bittet ihn, es sehen zu dürfen. Er kratzt sich am Kopf, geht ein paar Schritte und öffnet eine Wellblechhalle gleich gegenüber. Mit Tränen in den Augen schaut sie auf das darin stehende stark ramponierte Turmkreuz. Mauersberger wendet sich ab. Was die Leute alles mit dieser Kirche verbinden? Und womit man heute als Bauarbeiter seine Bezüge aufbessern kann… Er dreht sich um und geht. Langsam. Immer wieder schaut er in die Regale. Nein, das können unmöglich alle Steine sein. Wo sind die anderen? Die Größe der Kirche… und so wenige… Jeder Einzelne bekam eine Plakette aus Metall. Darauf ist die Nummer, unter der er in einem Computerprogramm abgelegt wurde. Angeblich kann man die Steine alle vermessen, dann die ursprüngliche Form der Kirche eingeben und die Technik rechnen lassen. So viele Steine wie irgend möglich sollen von der alten Kirche wieder in der neuen eine tragende Rolle spielen. Man spricht schon von einem unheimlichen Flickenteppich.
Verstohlen, an einer Ecke, wo wenige vorbei kommen, sich ihm aber ein guter Blick durch die Regalreihen zum Johanneum öffnet, schaut er auf seinen Plan, den er nun im DIN-A5-Format ständig bei sich trägt. Er rechnet, geht in Gedanken einige Schritte und flucht gleich wieder. Nun steht auch noch über dem einen möglichen Zugang ein Regalpfeiler. Wie sollen sie denn jemals da hineinkommen? Nein, das geht nicht. Vielleicht aber, wenn man mit dem Bau gut vorankommt?
Er sieht die Alte gehen. Gebeugt vom Alter, aber irgendwie auch gerade nach dem, was sie heute sehen durfte. Machte ihr das Kreuz Mut? Früher hielt man es sehr mit der Kirche. Er selbst glaubte auch. Natürlich, weil ihn die Eltern dazu brachten. Abends saß er am Bett und betete für diesen odere jenen, auch einmal ganz eigennützig, weil er sich etwas Besonderes zum Geburtstag oder zu Weihnachten wünschte. Meist bekam er es nicht und irgendwann, nicht nur darum, verlor er die Lust am Glauben… und ihn schließlich ganz.
Er winkt einem der Bauarbeiter, der mit einem roten Streifen am Helm zu signalisieren scheint, dass er mehr ist, als nur ein normaler Mitarbeiter. Der Mann trägt einen gewaltigen Bart. Hmm… Sieht irgendwie interessant aus. Und bedrohlich? Nein, die Augen strahlen, als er ihn anspricht.
„Ja, ja, natürlich gibt es noch mehr Steine. Auch ganz große. Die lagern wir auf allen nur möglichen Plätzen von Dresden aus. Na ja, meist sind es Industriebrachen. Manchmal stellt uns auch eine Eigentümergesellschaft Raum zur Verfügung. Ist ja auch ein gewaltiges Projekt. Sie verstehen? Da muss man einfach zusammenrücken. Aber… irgendwann sind sie alle wieder hier.“
Ja, sicher. Bis auf die, die zerbröselten oder auch die, die man für die Frauenkirchenuhren oder noch weiteren Souvenirs mit Spendenhintergrund verbrauchte. Mauersberger spricht das nicht aus. Er fragt noch nach einigen Orten. Der Bauarbeiter schaut ihn lange an, nennt dann einige, meint aber, dass sie bewacht würden. Beide grinsen.
Der Parkplatz liegt mitten in der Sonne. Dieser Sommer wird heiß und vielleicht endlich einmal richtig schön. Bauer steht am Rande der alten Krananlage und schaut zu den Steinen hinüber. Gleich daneben steht eine Schule. ‚Evangelische Hochschule’ kann er lesen. Er wusste gar nicht, dass es eine solche in Dresden gibt. Dann geht er beherzt durch das Tor und auf die Steine zu. Der Sockel, auf dem bis vor Kurzem noch der Reformator Martin Luther stand und über die Ruine der Frauenkirche wachte, scheint der größte Brocken von jener Baustelle zu sein, den man hierher auslagerte. Natürlich werden sie hier nichts finden. Mauersberger meinte jedoch, sie sollten alle Plätze kennen, an denen man die Steine ablegte. Auch riet er, sich mit dort Verantwortlichen gut zu stellen. Nein, vor Ort findet man nichts und kann man auch nichts Wirkliches ausrichten. Sie benötigen aber Namen. Kommen sie endlich dazu, zu graben und zu suchen, werden sie mit Sicherheit an Ordnungshüter geraten. Gut, wenn sie dann möglichst realistisch
Weitere Kostenlose Bücher