Choral des Todes
diese heile Welt, die ihn umgab, nicht hineinpasste: weihnachtlich beleuchtete Straßen, mit Geschenken schwer beladene Passanten, als Seeleute verkleidete Austernhändler, die ihre Ware in den Auslagen vor den Brasserien des Platzes appetitlich anboten.
Er fuhr nicht sofort los. Ruhe kehrte wieder in seine Seele ein. Ruhe – und auch Leere. In Wirklichkeit wusste er nicht, wohin er fahren sollte. Wo er mit seinen Ermittlungen über Hartmann beginnen sollte. Er hatte keinen blassen Schimmer.
Was hatte er eigentlich in der Hand? Einen Namen – dessen Condeau-Marie sich nicht einmal sicher war –, eine ungefähre Schreibweise, einige Daten … Es war wenig. Wie konnte er an einem 24. Dezember in Paris die Spur eines solchen Mannes finden? Zunächst dachte er an die chilenische Botschaft, dann an Velasco. Aber er wollte keinen Schritt rückwärts tun. Sich nicht noch einmal an Leute wenden, die er bereits befragt hatte.
Darum beschloss er, seine altbewährte Methode anzuwenden. Er rief sich sein Repertoire filmischer Antworten ins Gedächtnis und griff auf gut Glück eine heraus. Das war nicht die, die er erwartet hatte. Michèle Morgan, die mit vor Nässe triefendem Haar bei starkem Sturm in einer Schiffskabine hin- und hergeworfen wird. Die Frau mit den Katzenaugen schrie gerade ihren Mann an. Ihre Worte waren genauso heftig wie der Aufprall des Schiffsrumpfes auf das Wasser und das Peitschen der Gischt gegen die Bullaugen.
Kasdan ordnete mühelos die Szene ein. Schleppkähne . Regie: Jean Gremillon. 1940.
Michèle Morgan schrie ihrem Mann ins Gesicht: »Man kennt die Menschen erst richtig, wenn man sie verabscheut!«
Der Armenier hatte eine gute Wahl getroffen. Man kennt die Menschen erst richtig, wenn man sie verabscheut. Das war der Schlüssel. Um die Spur Hartmanns, des Berliner Musikwissenschaftlers, zu finden, der zweifellos in frühester Jugend mit dem Nationalsozialismus geliebäugelt hatte. Man musste sich an die erbitterten Gegner der Nazis wenden. An die, die von ihnen verfolgt, hingemordet, verbrannt worden waren: die Juden.
Seit fünfzig Jahren machte der israelische Geheimdienst, der beste der Welt, Jagd auf die Nazis, die in der ganzen Welt Zuflucht gesucht hatten. Beharrlich hatte er ihren Weg verfolgt, Fallen aufgestellt und sie enttarnt. Er hatte sie entführt, vor Gericht gebracht, hingerichtet. Jahrzehnte beharrlicher Arbeit. Nur um seinem Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Kasdan griff nach seinem Telefon.
Auch er konnte mit einem Handy alles Mögliche herausfinden.
Mit einigen wenigen Anrufen gelang es ihm, die Adresse des »Mémorial de la Shoah« herauszufinden: Rue Geoffroy-l’Asnier Nummer 17, mitten im Marais-Viertel. Mehr als ein Mahnmal war das CDJC ( Centre de Documentation Juive Contemporaine ), das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, aufgrund von Originalunterlagen aus den Archiven eine Liste mit sämtlichen Namen der jüdischen Opfer der Schoah in Frankreich anzulegen.
Das Telefon klingelte mehrere Male. Es war Heiligabend. Aber die Juden hatten ihren eigenen Kalender.
»Hallo?«
Kasdan nannte seinen Namen und seine Funktion und fragte, ob das Mahnmal heute öffentlich zugänglich sei. Die Antwort lautete: »Ja.« Ob auch das Dokumentationszentrum zugänglich sei? Ja. Ob die Sachverständigen des Dokumentationszentrums anwesend seien?
»Nicht alle«, war die Antwort. »Wir arbeiten mit schwacher Besetzung.«
»Ist wenigstens ein Fachmann für den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus da?«
»Heute hat ein junger Forscher Dienst. David Bokobza. Soll ich Sie mit ihm verbinden?«
»Sagen Sie ihm bitte nur, dass ich gleich vorbeikomme.«
KAPITEL 42
Das Memorial der Schoah befand sich nicht, wie Kasdan meinte, mitten im Marais, sondern am Rand des 4. Arrondissements in der Grünzone eines Viertels gegenüber der Île Saint-Louis. Es war ein modernes, kühles Gebäude, das auf die Seine ging und die anderen Gebäude überragte, die größtenteils aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammten.
Kasdan meldete sich an und bat, David Bokobza zu verständigen. In der Halle fand gerade eine Fotoausstellung statt. Großformatige, grobkörnige Schwarz-Weiß-Bilder, die ein halbes Jahrhundert alt zu sein schienen.
Der Armenier ging näher heran und setzte sich die Brille auf. Einer der Drucke zeigte einen Mann und eine Frau, die durch eine Ebene marschierten. Ihre schönen Gesichter trotzten dem Wind. Sie hätten ein wunderbares Paar abgeben können, aber die Frau
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