Choral des Todes
Zuflucht gesucht. In den sechziger Jahren.«
»Das sind sehr vage Angaben.«
»Es gibt noch zwei weitere Anhaltspunkte zu seiner Person. In Chile ist Hartmann ein Foltermeister geworden. Ein Spezialist, dessen sich Pinochet bedient hat. Damals war er etwa fünfzig Jahre alt. Er war auch Musiker. Er verfügte über gründliche Kenntnisse auf diesem Gebiet.«
Der freimütige Blick des Wissenschaftlers hatte sich getrübt. Kasdan hätte nicht sagen können, was seine Augen jetzt ausdrückten, aber die ganze Klarheit hatte sich in den Schatten der Wimpern zurückgezogen, als ob die Welt in ihrem derzeitigen Zustand die Leuchtkraft, die natürliche Spontaneität seines Blickes nicht verdient hätte.
»Hartmann ist in Deutschland ein weitverbreiteter Name«, sagte er dann. »Er bedeutet ›starker Mann‹. Auf musikalischem Gebiet ist der berühmteste Namensträger dieser Zeit Karl Amadeus Hartmann. Ein großer Komponist, geboren 1905. Er ist in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt, aber die Fachleute halten ihn für einen der größten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts.«
»Ich glaube nicht, dass er der Mann ist, den ich suche.«
»Das glaube ich auch nicht. Karl Amadeus Hartmann war tief bestürzt über die ›Machtübernahme‹ durch die Nazis. Er hat sich aus dem öffentlichen Musikleben in die innere Emigration zurückgezogen. Ich kenne andere Hartmanns. Einen Luftwaffenpiloten. Einen Angehörigen der Waffen- SS . Andere, die die geflohen sind: Psychologen, Philosophen, Maler.«
»All diese Männer entsprechen nicht meinem Profil.«
Plötzlich wurde Bokobzas Gesicht wieder von einem Lächeln erhellt, das klar und eisig wie Flusswasser war:
»Ich habe Sie an der Nase herumgeführt. Ich kenne Ihren Hartmann. Ich kenne ihn sogar sehr gut.«
Im Raum trat Stille ein. Kasdan verkrampfte sich – er mochte das Katz-und-Maus-Spiel nicht. Vor allem wenn er die Rolle der Maus spielte.
Der Israeli nahm den Gesprächsfaden wieder auf: »Wissen Sie, es ist komisch, Leute wie Sie herumtaumeln zu sehen.«
»Wie mich?«
»Leute, die keine Ahnung haben von der Welt, in der sie leben. Sie tasten sich vorwärts wie Blinde. Sie zum Beispiel sind überzeugt, einen Mann aus dem Schattenreich zu suchen. Sie meinen, ein Geheimnis zu lüften. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass jeder, der auch nur oberflächlich über die in Südamerika versteckten Nazis Bescheid weiß, Hans-Werner Hartmann kennt. Er ist eine Persönlichkeit. Fast ein Mythos auf diesem Gebiet.«
»Klären Sie mich auf.«
Bokobza stand auf und sah auf die Etiketten der Schubfächer.
»Hartmann war Musiker, es stimmt, doch vor allem war er Folterexperte. Als Pinochet an der Macht war, hatte er sein eigenes Verhörzentrum, und Hunderte von Gefangenen sind durch seine Hände gegangen.«
Bokobza zog ein Schubfach heraus. Blätterte die Karteikarten durch. Nahm eine heraus. Las sie aufmerksam durch. Dann begab er sich zu einem Eisenschrank, den er mit einem Schlüssel aus dem Schlüsselbund an seinem Gürtel öffnete. Diesmal holte er eine Kartonmappe heraus, in der sich keine Papiere, sondern Dias in Sichthüllen befanden.
»Aber vor allem war Hans-Werner Hartmann nach dem Zweiten Weltkrieg ein Guru.«
»Ein Guru?«
Der Wissenschaftler stellte mit beeindruckender Fingerfertigkeit die Dias in die Magazinführung des Projektors.
»Ein religiöser Führer. Hartmann hat eine Sekte im zerstörten Berlin gegründet. Dann ist er mit seinen Anhängern nach Chile emigriert. Dort ist seine Gruppe sehr einflussreich geworden.«
Bokobza trat ans Fenster und zog einen schweren Vorhang aus schwarzem Stoff zu. Plötzlich war der Raum in Dunkelheit getaucht. Dann holte er eine weiße Leinwand hervor – wie in alten Zeiten, als für den jungen Soldaten Kasdan Bilder von Afrika oder von Schlachtplänen an die Wand projiziert wurden.
Der Israeli ging wieder zum Projektor zurück. Schaltete das Gerät ein. Während er seinen Mechanismus prüfte, sprach er vor sich hin:
»Hartmanns Geschichte ist faszinierend. Es ist eine dieser Geschichten, die nur im Schatten von großen Kriegen und Reichen des Bösen möglich sind.«
KAPITEL 43
Erstes Bild. Schwarz-weiß. Ein junger Mann mit entschlossenem Gang in einem eng anliegenden Anzug mit einer kleinen Krawatte um den rundlichen Hals.
»Hans-Werner Hartmann. 1936. Er erhält sein Diplom am Berliner Konservatorium. Klavier. Harmonie. Komposition. Er ist einundzwanzig Jahre alt. Seine Mutter ist Französin, sein Vater
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