Choral des Todes
war nackt, und der Mann hielt ein Gewehr in der Hand. Die Bildunterschrift lautete: »Estland, 1942. Eine Frau wird zu einem Massengrab geführt, wo sie von einem Soldaten aus einer Einsatzgruppe erschossen wird.«
Kasdan richtete sich voller Abscheu wieder auf. Er war 63 Jahre alt und hatte sich noch immer nicht daran gewöhnen können. Woher kam das Böse? Dieser Zerstörungstrieb? Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem höchsten Gut: dem Leben? Kasdan erinnerte sich an einen Satz, den ein KZ -Wärter in Auschwitz dem Häftling Primo Levi entgegengeschleudert hatte: »Hier gibt es kein Warum.«
Ihn schockierten auch die Gemeinheit und die Niedertracht der Henker. Wenn man tötete, musste man auch akzeptieren, selbst getötet zu werden. Seiner eigenen Existenz keinen Wert beimessen. Aber nein. Die Unterdrücker klammerten sich immer an ihr schäbiges Leben. Himmler wurde beim Besuch des Lagers Treblinka ohnmächtig. Die Nazis in den russischen Gefangenenlagern waren dreckig, verängstigt, boten einen jämmerlichen Anblick, fürchteten sich vor Hunger und Schlägen. Die Angeklagten in Nürnberg hatten alles Mögliche versucht, um ihre Verantwortung zu leugnen und ihre armselige Haut zu retten. Würdelose Dreckskerle, deren einzige Kraft darin bestanden hatte, im richtigen Augenblick auf der richtigen Seite zu stehen.
»Sie wollen mich sprechen?«
Kasdan drehte sich um und setzte seine Brille ab. Vor ihm stand ein junger Mann. Er trug die Kippa und ein Oxfordhemd mit feinen Streifen und aufgekrempelten Ärmeln. Was an seinem mit Sommersprossen übersäten Gesicht am meisten auffiel, war die Offenheit seines Blicks. Ein klarer, heiterer Blick, der nichts verheimlichte und als Gegenleistung das Gleiche erwartete.
Der Armenier nannte seinen Namen, seinen Dienstgrad und erwähnte die Ermittlung in einem Kriminalfall, ohne auf Details einzugehen. David Bokobza schüttelte amüsiert den Kopf. Mit sanfter Stimme und leichtem fremdländischem Akzent meinte er:
»Ich dachte, dass französische Polizisten viel früher in den Ruhestand treten.«
»Ich bin im Ruhestand. Ich bin Berater der Kriminalpolizei.«
Der Israeli straffte den Körper und täuschte eine übertriebene Bewunderung vor.
»Ich habe kein eigenes Büro. Gehen wir in den Raum, wo ich arbeite.«
Kasdan folgte ihm. Sie stiegen eine Treppe mit an Stahlstäben aufgehängten Stufen hinauf, ganz nach dem Trend der modernen Architektur, und durchquerten mehrere Säle. An den Wänden sah Kasdan Karteikästen, Metallregale, Holzschubfächer, Aktenordner. Namen, Zahlen, Verweise. In der Mitte standen lange Tische mit PC -Arbeitsplätzen.
Die Zimmer waren weitgehend verwaist, dennoch hatte Kasdan den Eindruck, sich in einem Bollwerk, einer Festung zu befinden. Als leidenschaftlicher Liebhaber von Waffen und Militärstrategie bewunderte er die Israelis – die seines Erachtens eine der schlagkräftigsten Armeen weltweit hatten.
»Da sind wir.«
Der Raum ähnelte den anderen. Die Wände waren mit kleinen, etikettierten Schubfächern verkleidete Wände. Fenster mit Blick auf die Seine. Ein langer Tisch mit Aktenordnern, einem PC und einem Projektor.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Bokobza schob einen Schulstuhl zu Kasdan hinüber:
»Dann legen Sie bitte los. Eigentlich habe ich nicht viel Zeit.«
Kasdan setzte sich und hatte wie immer Angst, dass der Stuhl unter seinem Gewicht zusammenkrachen würde.
»Ich habe eine etwas eigenartige Bitte.«
»Hier ist nichts eigenartig. Unser Archiv birgt die sonderbarsten Geschichten.«
»Ich bin nicht auf der Suche nach einem Juden.«
»Sicher. Sie selbst sind ja auch kein Jude.«
»Woher wissen Sie das?«
Ein Lächeln huschte über Bokobzas Gesicht:
»Ich sehe jeden Tag Leute wie Sie.« Er rieb seine Daumen an den anderen Fingern. »Es ist fast … paranormal. Ein Vibrieren, ein Feeling. Wen suchen Sie also?«
»Einen Nazi.«
Das Lächeln verschwand.
»Die Nazis sind alle tot.«
»Ich suche … Es ist schwer zu erklären. Ich suche eine Spur. Ich glaube, dass die Methoden des Mannes, um den es mir geht, Schule gemacht haben. Und damit hängen die Morde zusammen, die mich interessieren.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Er heißt Hartmann. Ich kenne weder seinen Vornamen noch die exakte Schreibweise seines Nachnamens. Ich bin aber sicher, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus Deutschland geflohen ist. Damals machte er sich nicht einmal Sorgen. Er war zu jung. Erst später hat er in Chile
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