Choral des Todes
Bayer. Kleinbürger aus der Textilbranche.«
Der Musiker hatte nichts vom blonden Arier. Er war dunkelhaarig, schlank und wirkte wie einer dieser Fanatiker oder Aufrührer, die man aus den russischen Romanen kennt. Sein Haar war pechschwarz, sehr dicht und stand ihm buchstäblich zu Berge, als ob seine glühenden Gedanken sich in Elektrizität umgewandelt hätten. Seine dunklen, tief liegenden Augen schienen sich hinter den hervorstehenden hohen Wangenknochen zu verstecken, auf denen man ein Messer hätte schleifen können. Schmale Lippen vervollständigten den harten, beklemmend eindringlichen Gesichtsausdruck. Er ähnelte Jack Palance.
»Es ist anzunehmen, dass er damals zwischen zwei Neigungen hin- und hergerissen war. Zwischen seiner Leidenschaft für die Musik und seinem übersteigerten Patriotismus. Als Musiker kann er die großen deutschen und österreichischen Komponisten wie Mahler, Schönberg, Weill nicht einfach ignorieren. Aber die Werke all dieser Künstler sind von den Nazis bereits verboten worden. Es ist die Zeit der »Gleichschaltung«. Auf den Plätzen werden die Bücher von Sigmund Freud und Thomas Mann verbrannt. In den Museen entfernt man Bilder. Konzerte mit Musik jüdischer Komponisten sind verboten. Hartmann macht bei dieser Umgestaltung mit. Er gehört der Hitlerjugend an. Aber als Schöngeist kann Hartmann diesen Wahn nicht gutheißen. Zugleich ist er ein Kind seiner Zeit. Verbittert. Hasserfüllt. Aufgewachsen in dem Groll über die Niederlage von 1918.«
Kasdan dachte an seinen Sohn. Ein schlimmes Alter. Das Alter, in dem Kinder sozusagen Erwachsene werden. Das Alter, in dem sie in Wirklichkeit am empfindlichsten sind, ganz gleich, welchen Weg sie einschlagen.
»Ich glaube vor allem, dass er ein gescheiterter Musiker ist«, fuhr Bokobza fort. »Er hat sein Diplom ergattert, weiß aber, dass er sich weder als Komponist durch Originalität auszeichnet noch dass er je eine Chance als Konzertpianist haben wird. Das Bewusstsein, dass sein Leben ein Misserfolg ist, verstärkt seine Bitterkeit. Er ist reif für den barbarischen Fanatismus der Nazis. Schließlich bewahrt ihn die ›Schäfer-Expedition‹ vor der klassischen Karriere eines Hitler-Kaders.«
Das Dia-Magazin bewegte sich. Ein altes Bild der tibetischen Hauptstadt Lhasa erschien auf der Leinwand. Die hohen Türme des Potala-Palastes überragten die Verbotene Stadt.
»Sie wissen, dass die Nazis von den Wahnvorstellungen der Abstammung, der reinen Rasse und all diesem Irrsinn besessen waren. Auf diesem Gebiet hatten sie einen eigentümlichen Wahn: das Gebirge. In ihren Augen war dies der Ursprungsort schlechthin. Der Ort der Größe, der Reinheit. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler leitete damals eine Gruppe von Blendern, von selbsternannten Experten, die die Geschichte der Welt neu geschrieben hatten, indem sie heidnische Riten mit aberwitzigen Anschauungen über die Existenz untergegangener Kulturen vermengten. Sie hatten sogar eine Theorie entwickelt, der zufolge die Ahnen der Arier, im Eis eingefroren, von einem Blitz befreit worden seien. In diesem Zusammenhang waren die Tibeter, die in der Höhe und in vollkommener Reinheit lebten, möglicherweise Verwandte dieser Lohengrins, die aus eisigen Höhen herabgestiegen waren. Man musste es vor Ort überprüfen … Das war die ›Schäfer-Expedition‹.«
Ein Klicken. Ein neues Dia. Abendländer und Tibeter saßen am Boden um einen niedrigen Tisch. In der Mitte ein sanftmütiger, bärtiger Mann.
»Der Mann in der Mitte ist Ernst Schäfer, Zoologe, Rassenforscher, angeblich eine Experte auf dem Gebiet der arischen Rasse. Daneben steht Bruno Beger, der seine Zeit damit verbringt, Schädel zu vermessen und die Reinheit der Tibeter zu ›testen‹. Diese Abenteuer haben etwas Komisches an sich, wenn man außer Acht lässt, dass sie zur Endlösung beigetragen haben. Ich will es Ihnen gleich sagen: Meine ganze Familie ist in Auschwitz umgekommen. Links zwischen den beiden Tibetern sieht man wieder Hartmann. Er hat sich einen Bart wachsen lassen.«
Kasdan sah vor allem die Hakenkreuze und SS -Runen, die Häuser im Himalaja schmückten. Das Nazi-Grauen in viertausend Metern Höhe.
»Was tat Hartmann auf dieser Expedition?«, fragte er.
»Er befasste sich mit Musik. Das heißt, mit der Musik der Tibeter. Er war diplomiert am Konservatorium und zugleich ein Nazi. Das ideale Anforderungsprofil. Im Archiv der Expedition hat man seine Aufzeichnungen wiedergefunden. Hartmann hat in Tibet
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