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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Zweifellos die Seyal-Akazie, von ihren Dornen befreit.
    Laufgeräusche links. Volokine drehte sich in die Richtung. Gelächter weiter weg. Ein Aufblitzen rechts. Der Polizist wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Die Kinder verschwanden, kaum dass sie aufgetaucht waren, unter den Treppen, hinter den Ligusterbüschen.
    Er machte drei Schritt vorwärts, auf das linke Gebäude zu. Über die Schulter warf er Kasdan einen Blick zu, der sich dem rechten Gebäude näherte. Der Abstand zwischen den beiden Männern betrug mittlerweile etwa hundert Meter. Volokine ging an einem ersten von Raureif überzogenen Strauch vorbei.
    Stille. Wind. Kälte.
    Ein Detail wurde deutlicher. Ein kaum hörbares Geräusch hinter dem Dickicht, herangetragen von einem Windstoß, hinweggetragen von einer zweiten Bö. Die Kinder flüsterten. Sie bereiteten etwas vor. Volokine schlich an der Hecke entlang und versuchte hindurchzuspähen. Im Mondlicht konnte man hervorragend sehen. Er richtete seine Glock aus, doch er war sich mittlerweile sicher: Er würde seine Waffe nicht benutzen. Niemals würde er auf solche Gegner schießen.
    Der Kampf war im Vorhinein verloren.
    Gegen diese Feinde war er machtlos.
    Knirschender Kies. Gefrorene Erdklumpen. Er ging noch immer an der Ligusterhecke entlang. Das Murmeln hatte aufgehört. Die Hecke endete. Volo machte einen Satz nach links und richtete die Waffe auf den schmalen Spalt zwischen diesem Strauch und dem nächsten.
    Niemand.
    Der Polizist spielte mit seinen Fingern am Pistolenkolben. Ungeachtet der Kälte überzog ein Schweißfilm sein Gesicht. Sein Herzschlag stockte.
    Er ging weiter. Langsam. Angespannt. Und zugleich wankend. Alles erschien ihm fremd. Sein Bewusstsein verließ seinen Körper und schwebte um ihn. Er richtete einen neutralen, entrückten Blick auf seine Umgebung. Er entwich dem Augenblick, der Anspannung, der Bedrohung …
    Ein Kratzen zu seiner Linken.
    Er reagierte eine Hundertstel Sekunde zu spät. Das Kind war über ihm.
    Volokine blieb stehen. Oder vielmehr blieben die Zeit, der Raum und der Kosmos stehen und vergrößerten sich ins Unendliche. Er sah etwas, das er nicht glauben konnte. Die Maske des Kindes. Gegossen aus funkelndem Metall, getrieben mit Hammerschlägen. Beulen, Zacken und Vertiefungen verunstalteten ihre Oberfläche.
    Unwillkürlich musste er an die Silberkugeln denken, die die Helden der Comics seiner Kindheit benutzten, um Werwölfe zu töten.
    In dieser Nacht war er der Werwolf.
    Die Züge der Maske faszinierten ihn.
    Eine antike Groteskmaske. Freude, Lachen, Schmerz. Große schwarze Rauten für die Augen. Eine noch größere Öffnung für den Mund. Die Grimasse war in die Breite gezogen, wie um einen bestimmten Gemütszustand überdeutlich zum Ausdruck zu bringen. Im antiken Theater wurde jedes Gefühl auf der Bühne in einer grandiosen, allgemeingültigen Weise dargestellt. Volokine dachte: Du bist eine Kind-Gottheit …
    In diesem Moment flüsterte das Kind:
    »Gefangen.«
    Es stieß das Messer in Volokines Oberschenkel.
    Der Polizist schrie auf. Der Platz und der Himmel begannen sich zu bewegen. Zwei finstere Spiegel mit dem Schornstein und den Gebäuden, die zwischen den beiden Flächen schwankten. Er versuchte sich wieder in die Gewalt zu bekommen, aber er konnte kaum noch das Gleichgewicht halten. Er blickte nach unten, auf die Wunde, und spürte, wie sich das Brennen mit Lichtgeschwindigkeit durch seinen Körper ausbreitete. Er sah, wie die kleine Hand die Klinge bis zum Griff in den Schenkel hineinrammte. Er dachte in stakkatoartiger Folge: Griff aus Holz, Messer aus dem 19. Jahrhundert, Die Amish des Bösen …
    Dann schluckte er einmal kräftig, während der Boden sich drehte und den Himmel umstürzte. Er wollte den Arm des Kindes mit der linken Hand festhalten, verfehlte ihn jedoch.
    Er fiel auf die Knie.
    Von weit, sehr weit her hörte er den Ruf Kasdans, der zu ihm gelaufen kam:
    » VOLO !«
    Dann hörte er, ganz nah, hinter der Maske das auf erschütternde Weise vertraute Lachen. Ein triumphierendes Lachen. Das Kind hatte das Heft des Messers noch immer nicht losgelassen. Er drückte mit aller Kraft und mit beiden Händen darauf und brach die Klinge tief in der Wunde ab. KLACK .
    Der Schmerz nahm deutlich zu. Volokine richtete den Blick auf die starre Maske, die vom Mondlicht beschienen wurde. In Ruhe dachte er an eine Lehrveranstaltung über die Ursprünge der griechischen Mythologie, die er einst an der Universität besucht hatte. Er dachte

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