Choral des Todes
…«
»In Ordnung. Kein Problem. Beruhig dich.«
»Ich bin ganz ruhig. Sie haben mir ein Beruhigungsmittel gegeben … Haben Sie ihre Masken gesehen?«
Kasdan antwortete nicht. Funkelnde Silbermasken, furchterregend, tragisch. Er versuchte dieses Bild zu verscheuchen.
»Kind-Götter …«, flüsterte der junge Polizist. »Es sind Kind-Götter …«
Er schloss die Augen. Der Armenier nahm seine Hand. Im Innersten flehte er zu dem Gott der Armenier, der sie so oft vergessen hatte, er möge an diesem Morgen an diesen jungen Odar denken. Diesen Nicht-Armenier, der das Leben noch vor sich hatte.
»Kasdan.«
»Was?«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«
Der Ex-Polizist erblasste, brachte aber dennoch den Anflug eines Lächelns zustande:
»Wirst du jetzt sentimental?«
»Es ist gut für mein Bein …«
»Was willst du wissen?«
»Sie ist tot, oder?«
Kasdan atmete tief durch. Er hob die Augen und ließ den Blick durch den Raum gleiten. Die anderen Tische, die an eine Leichenhalle erinnerten. Das Durcheinander der Apparate. Das blendende Licht. Alles hier wirkte abgenutzt, angegriffen durch den unablässigen Kampf gegen Krankheit und Tod.
»Kasdan.«
»Was?«
»Ihre Frau, verdammt. Ich komm gleich in den OP .«
Der Armenier biss die Zähne zusammen. Ihm war schwindlig. Das war der letzte Moment, den er sich ausgesucht hätte, um über Nariné zu sprechen. Aber er ahnte, worum es Volokine ging. Eine sehr persönliche Mitteilung. Ein leises Wiegenlied. Etwas, was ihn beruhigte und den Albtraum, den er soeben durchlebt hatte, linderte.
»Meine Frau ist im Jahr 2001 gestorben«, sagte er endlich. »Streukrebs.«
»War das ein Schlag für Sie?«
»Natürlich. Aber seit ihrem Tod fühle ich mich stärker, sehe ich klarer. Durch die viele Gewalt, die ich erlebte, hielt ich mich schließlich für unbesiegbar, verstehst du? Als Nariné starb, überraschte mich nicht dieses jähe Einbrechen des Todes ins Leben. Im Gegenteil. Ich habe begriffen, wie sehr der Tod zum Leben gehört und dass das Leben nur ein kurzes Zwischenspiel ist, ein kurzes Durchbrechen der Oberfläche in einem Meer des Nichts. Für mich ist der Tod Narinés das gewesen. Ein Ordnungsruf. Wir sind alle Tote im Werden …«
Kasdan schlug die Augen nieder. Volokine schlief. Der Armenier biss sich auf die Lippe. Weshalb hatte er gelogen? Weshalb markierte er gegenüber diesem jungen Mann, der ihn doch gerade um ein Zeichen der Aufrichtigkeit gebeten hatte, noch immer den Großsprecher, den Philosophen?
Mit dreiundsechzig Jahren kamen ihm gewisse Wörter noch immer nicht über die Lippen.
Er hatte nicht über Nariné gesprochen, sondern über ihren Tod. Nicht einmal das: über den Tod im Allgemeinen. Wenn er aufrichtig gewesen wäre, hätte er etwas anderes erzählen müssen. Er hätte sagen müssen, dass er noch heute von einem Zimmer ins andere nach seiner Frau rief. Dass sie, sobald er mit den Gedanken abschweifte, in sein Bewusstsein trat. Ich muss mit Nariné darüber sprechen … Ich muss Nariné anrufen …
Er war wie ein Sprinter, der soeben die Ziellinie passiert hatte und von seinem Schwung noch ein Stück mitgerissen wurde. Er lief, wobei er sein vergangenes Leben, seine früheren Bezugspunkte, seine vertrauten Empfindungen mit sich nahm. Dann stieß er unvermittelt auf die Gegenwart – die Leere der Gegenwart –, und das war, als würde man ihn nach hinten ziehen, damit er die Ziellinie immer wieder aufs Neue passieren musste. Damit es ein für alle Mal in seinen Kopf ging: Nariné ist tot. Tot und hinweggefegt. Das Rennen ist zu Ende.
Das hätte er dem Jungen sagen sollen.
Er hätte ihm sagen müssen, dass er sich jeden Tag eine Szene ausmalte, an ein Detail erinnerte. Jedes Objekt, jedes Element bewegte sich in seinem Kopf an die Stelle, an die es gehörte; die Gefühle kamen und färbten das Bild, aber dann verschwand plötzlich das zentrale Motiv. Nariné war weg. Da zerfiel das Bild, und er verharrte in einem Zustand ungläubiger Benommenheit.
Er hätte Volo auch sagen sollen, dass es manchmal genau umgekehrt war. Ein Element der Gegenwart rief Nariné ins Leben zurück, wie eine Brandung. Er spürte sie in seiner Nähe, er spürte, dass sie in seinem Leben gegenwärtig war. Im Alltag, im Schatten seiner Gedanken, in seinen Gewohnheiten. Überall wirkte Nariné fort. All diese Dinge hätten mit ihr sterben sollen, aber nein, sie hatten überlebt. Und in gewisser Weise lebte sie selbst dank dieser Elemente weiter. Der
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