Choral des Todes
an die Entstehung der Erde, den Schöpfergott Uranos und seine Hochzeit mit der Erde, Gaia. Er dachte an ihre Kinder, die Titanen; einer davon war Kronos, der seinen Vater entmannte.
»Titanen-Kinder …«
Er wollte schreien, aber seine Zunge war in seinem Mund angeschwollen.
Er brach zusammen.
Seine Schläfe schlug auf dem Boden auf, ein Geräusch wie eine Schlussklappe am Set. Er sah als vertikales Bild: den Boden, den Schornstein, den Mond – und den riesigen Schatten Kasdans, dessen Drillichjacke im Wind knatterte und der seine Sig Sauer mit ausgestrecktem Arm vor sich hin- und herschwenkte.
»Nein!«, wollte Volo rufen, doch schon sah er das weiße Mündungsfeuer der Waffe. Der Himmel enthüllte sich, als hätte ihn ein Blitz durchzuckt. Die Hochhäuser zeichneten sich als Negative ab.
Kasdan hatte sein Ziel verfehlt – die Kinder-Götter waren unsterblich.
Der Armenier hatte ins Leere geschossen.
Und sie alle beide schritten durch eine ewige Leere.
Dann brach diese Leere über ihn herein, und er versank im Nichts.
KAPITEL 57
»Polizei. Das ist ein Notfall.«
6.30 Uhr.
Notaufnahme der Klinik Lariboisière.
Kasdan stützte Volokine mit der Schulter. Sie durchquerten das Wartezimmer und stapften zu dem freien Empfangsschalter.
Der Armenier klopfte mit der Faust dagegen und rief mehrfach:
»Polizei! Niemand da?«
Keine Antwort. Er setzte seinen Partner auf einen der Sitze, die an die Wand geschraubt waren, und bemerkte erst jetzt die anderen Gestalten, die im Dämmerlicht des Zimmers warteten. Das unbarmherzige Schicksal wollte es, dass sich in dieser Weihnachtsnacht hier nur Paare eingefunden hatten, die in ihren Armen Kinder hielten. Eltern, die in dieser Nacht Wunden, Viren und Infektes als »Geschenke« erhalten hatten.
Schritte, hinter ihm.
Eine Krankenschwester.
Kasdan ging ihr entgegen und hielt ihr seinen blau-weiß-roten Ausweis hin.
»Mein Kollege ist verletzt.«
»Sie werden hier nicht vorrangig behandelt. Sie hätten ins Hôtel-Dieu fahren sollen.«
»Er hat eine stark blutende Wunde! Rufen Sie einen Arzt. Ich werde es ihm erklären.«
Die Frau machte auf dem Absatz kehrt.
In dem Raum wagte es niemand, sich zu rühren. Kasdan spürte die Aura brutaler Gewalt, die er diesem Ort kummervoller Stille aufdrängte.
Drei Männer im weißen Kittel tauchten auf. Zwei von ihnen schoben eine Bahre. Kasdan hob Volokine, der nur halb bei Bewusstsein war, vorsichtig hoch. Auf dem Platz in Gennevilliers hatte er ihm in der Schenkelbeuge mit seinem Gürtel eine Aderpresse angelegt. Er hatte seine Glock an sich genommen. Die Kinder waren verschwunden. Kasdan hatte seinen Kollegen auf dem Weg über den freien Platz gestützt. Sie waren bis zur Porte de Clignancourt gefahren, anschließend den Boulevard de Rochechouart hinauf und hatten dann vor der ersten Klinik gehalten, an der sie vorbeikamen: Lariboisière, Boulevard Magenta. Unterwegs hatte Kasdan in einem fort gesprochen, um Volokine wach zu halten.
»Was ist passiert?«
»Wir wurden angegriffen«, antwortete er. »Wir waren auf Streife.«
»Folgen Sie mir in den OP -Trakt.«
Hinter dem Mann legten die Krankenpfleger Volokine auf die Bahre. Kasdan sah sein verletztes, blutglänzendes Bein. Der Arzt drehte sich um und ging hinter der Fahrtrage her, die durch den Flur geschoben wurde.
Kasdan folgte ihnen auf den Fuß:
»Ist es schlimm?«
»Wir werden sehen.«
Ein Teil von ihm war beruhigt. Volokine war jetzt in der Hand von Profis. Sie befanden sich in jener Welt, wo nicht nur das Wissen, sondern auch die erforderlichen Geräte und Apparate vorhanden waren, um den menschlichen Körper am Leben zu halten. Aber ein anderer Teil seines Gehirns registrierte die abgründige Düsterkeit und die ungesunde Aura des Ortes. Die Trage quietschte. Es herrschte eine drückende Hitze. Der Geruch von Äther schwängerte die Luft.
Sie gelangten in ein weißes Zimmer, das hell erleuchtet war. Tragen, verchromte Instrumente, ausgeschaltete Apparate, zusammengerollte Kabel – alles in einer Unordnung, die an ein medizinisches Vorratslager erinnerte.
Volokine wurde auf einen mit grünem Papier überzogenen Tisch gelegt. Er war noch immer benommen. Zwei Krankenschwestern schnitten seine blutgetränkte Hose auf und entfernten die Schnürbinde. Eine andere legte ihm bereits die Armbinde eines Blutdruckmessers an.
Der Arzt warf einen kurzen Blick auf die Wunde und sah dann zu Kasdan auf:
»Ist er geimpft?«
»Keine Ahnung.«
Kasdan dachte an die
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