Choral des Todes
Geschmack ihres Lieblingsweins. Eine Fernsehserie. Die Freunde, die sie verabscheute. Die Welt Narinés war noch immer lebendig. Und sie war in dieser Welt.
Vor allem hätte er Volo sagen müssen, dass ihn dieser Tod nicht unvorbereitet traf. Was erwartete man bei einem siebenundfünfzigjährigen Menschen, in dessen Körper der Krebs überall gleichzeitig ausgebrochen war? Eine Frau, die zu einem Feld von Metastasen geworden war? Dennoch hatte er nicht geahnt, dass die abschließende Explosion ein riesiges Loch zurücklassen würde. Dieses Loch, das er Tag für Tag im Kontakt mit dem Leben, das weiterging, ermaß. Seit langem schon hatte er Nariné nicht mehr geliebt. Er erinnerte sich nicht einmal an den Moment, wo seine Liebe aufgehört hatte. Und noch weniger an den Zeitpunkt, da sie begonnen hatte. Seit Jahren schon war Nariné nur noch ein Quell des Ärgers gewesen. Ihre Beziehung war nur noch eine Folge von Streitigkeiten und Atempausen gewesen, sie hatten einander das Leben zur Hölle gemacht.
Diese intime Feindin war gestorben. Doch unter dem Eindruck ihres Verschwindens hatte er eine andere, tiefere Wahrheit entdeckt. Nariné existierte in den Tiefen seines Bewusstseins. Schon lange war sie aus dessen Oberfläche verschwunden. Sie hielt sich in anderen Regionen auf. Dort, wo er nie hinkam. In den Kulissen seines eigenen Lebens. Dort, wo alles entschieden und vorbereitet wird, wo die Dinge heranreifen. Der Ursprungsort, der sich von selbst versteht und den man nicht mehr aufsucht …
Da hatte er das Ausmaß dessen, was er verloren hatte, ermessen. Als seine Schritte in seinem leeren Theater widerhallten, begriff er, dass er die Schlacht verloren hatte. Endgültig. Nein, Nariné lebte nicht dank seines Geistes, denn sein Geist war mit ihrem Verschwinden gestorben, da er seine innere Klarheit, seinen Daseinsgrund verloren hatte.
Das Läuten eines Handys riss ihn aus seinen Gedanken.
Es war nicht seines. Ihm wurde bewusst, dass er heiße Tränen vergoss. Er lauschte. Da Läuten kam aus der Drillichjacke Volokines, die auf einer anderen Bahre lag.
Er nahm das Handy heraus, warf einen Blick aufs Display – natürlich kannte er die Nummer nicht. Er nahm den Anruf nicht sofort an, sondern verließ mit dem Telefon den Raum.
Wer konnte den Jungen um sechs Uhr morgens anrufen?
KAPITEL 58
Unter den vorwurfsvollen Blicken der Krankenschwestern stapfte er den Gang hinauf. In sämtlichen Räumen der Klinik war das Benutzen von Mobiltelefonen verboten. Er stieß die Flügeltür auf und befand sich nun bei den Aufzügen.
»Hallo?«
»Dalhambro.«
»Hier spricht Kasdan«, sagte er, während er sich mit der Hand die Augen trocknete. »Was ist los?«
»Ist Volokine nicht da?«
»Gerade nicht zu sprechen. Ich höre.«
Ein kurzes Zögern. Der Mann hatte offensichtlich nicht mit diesem Gesprächspartner gerechnet.
»Okay«, sagte er, »ich konnte nicht wieder einschlafen. Die Sache mit der chilenischen Sekte hat mir keine Ruhe gelassen, also habe ich nachgebohrt.«
Kasdan sagte sich, dass sie trotz dieses Chaos Glück hatten. Es gab noch Männer wie Dalhambro oder Arnaud – kaum dass man ihnen von einem Fall erzählt hatte, fingen sie Feuer. Männer, die nicht völlig durch Weihnachten eingelullt wurden.
»Hast du etwas gefunden?«
»Ich glaube, ja. Aber es ist keine Sekte. Es ist ein autonomes Gebiet.«
»Was?«
»Hört sich verrückt an, aber so ist es. Die französische Regierung hat einer gemeinnützigen Stiftung mit dem Namen Asunción ein größeres Anwesen übertragen. Der vollständige Name lautet Sociedad Asunción benefactora y educacional . Anscheinend gab es eine Vereinbarung mit Chile, die die Ansiedlung der Gruppe in Frankreich regelte. Achtung! Es handelt sich nicht um bloßen privaten Grundbesitz, sondern um exterritoriales Gebiet innerhalb Frankreichs, auf dem weder französisches noch chilenisches Recht gilt.«
»Wie ist das möglich?«
»Alles ist möglich. Es gibt noch weitere Beispiele. Das nennt man einen ›Mikro-Staat‹. Hier handelt sich um souveränes Territorium, auf dem die französische Justiz keinerlei Befugnisse hat. Die genaue Zahl der Einwohner ist unbekannt. Auch die genaue Topografie des Gebietes und die Bebauung sind unbekannt. Man weiß auch nicht, wie viele Flugzeuge und Hubschrauber diese ›Nation‹ besitzt. Sie haben ihren eigenen Luftraum. Man darf Asunción nicht einmal überfliegen.«
Rädchen begannen sich in Kasdans Gehirn zu drehen. Dieser Sonderstatus
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