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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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einige Bücher in Spanisch. Götz’ Diskretion zeigte sich noch in der Einrichtung seiner Wohnung, und Kasdan war sich fast sicher, dass er hier nichts finden würde.
    Der Armenier streifte sich seine Chirurgenhandschuhe über und sah auf seine Uhr: Es war fast Mitternacht. Dennoch würde er sich die Zeit nehmen, die Wohnung gründlich zu durchsuchen.
    Er begann mit der Küche. Im Schein der Straßenlaternen. Sauberes Geschirr auf dem Abtropfgestell neben dem Spülbecken. Teller und Gläser, feinsäuberlich aufgereiht in den Wandschränken. Götz hatte Sinn für Ordnung. Der Kühlschrank war fast leer. Das Gefrierfach war gefüllt mit Tiefkühlkost. Der Organist war kein großer Koch. Kasdan fiel etwas auf: Es gab hier nichts Chilenisches. Götz hatte radikal mit seiner Vergangenheit gebrochen, selbst in seinem kulinarischen Geschmack. Und nichts wies auf die Besuche des kleinen Naseer hin: Nicht einmal das Müsli seines Geliebten bewahrte er hier auf.
    Kasdan ging ins Schlafzimmer und betätigte abermals den Rollo-Knopf. Dann machte er auch hier Licht. Ein Doppelbett. Nackte Wände. Abgetragene, stumpfe Kleidungsstücke in einem Wandschrank. Nicht das geringste Detail, das etwas über die Persönlichkeit des Mieters verraten hätte, abgesehen von zwei Büchern aus der Sammlung Microcosmes . Das eine über Bartók, das andere über Mozart. Und ein Kreuz an der Wand über dem Bett. All dies atmete das wohlgeordnete Leben des fantasielosen Rentners. Ein Leben, das er selbst nur zu gut kannte …
    Aber Kasdan spürte noch etwas anderes. Eine Diskretion, einen Willen zur Unauffälligkeit, der ein Geheimnis verbarg. Naseer, natürlich. Aber Kasdan hätte es schwören können, dass es noch andere verborgene Neigungen gab. Wo hatte der Musiker seine Geheimnisse versteckt?
    Badezimmer. Aufgeräumt, mehr nicht. Götz machte seine Wohnung selbst sauber und verbot Naseer, irgendeines seiner Pflegeprodukte mitzubringen. Keine Medikamente. Für sein Alter war der Chilene bestens in Form.
    Kasdan ging durch den Flur in ein zweites Zimmer. Ein Musiksalon, in dem ein Klavier und eine riesige alte Hi-Fi-Anlage standen. Götz hatte die Decke mit Eier-Verpackungen verkleidet, zweifellos um das Zimmer schalldicht abzuschirmen. Rollo. Licht. Die zahlreichen kleinen Nischen an der Decke warfen zahllose Schatten, die eines Gemäldes von Vasarely würdig gewesen wären.
    Als Kasdan mit den Augen die Wände absuchte, wurde ihm klar, dass er sich hier dem Innenleben von Götz näherte. Dieser Raum atmete die Passion des Organisten, die Musik. Zwei Regalwände voller CD s und Schallplatten. Sammlerstücke. Historische Aufnahmen von Opern, Symphonien, Klavierkonzerten. Dieses Zimmer verriet auch eine akribische Sorgfalt, die gezierte Umständlichkeit des alten Junggesellen. Ungeachtet der Größe des Themas – der Musik – lag etwas Engherziges, Kleingeistiges in dem Raum und überzog alles wie mit einer feinen Staubschicht.
    Kasdan näherte sich dem Klavier. Ein E-Piano mit angeschlossenem Kopfhörer. Er verweilte länger bei der Hi-Fi-Anlage. Eingebauter Verstärker der Marke Harman-Kardon. Zwei Säulen-Lautsprecher. Bass-Reflex-Gehäuse. Profimaterial. Der Organist hatte offenbar sein ganzes Geld in diese Ausrüstung gesteckt, um die höchste Klangqualität herauszuholen.
    Die Plastikhülle einer CD lag auf dem CD -Spieler. Kasdan betrachtete die Hülle. Die Aufnahme eines Chorwerks, des Miserere von Gregorio Allegri. Der Armenier las die Rückseite der CD -Verpackung und staunte: Der Chorleiter war niemand anderer als Wilhelm Götz in Person. Er zog das Beiheft aus der Verpackung und blätterte es durch. Ein zweiseitiges Gruppenfoto. Zwischen den in Schwarz und Weiß gekleideten Jungen blickte ein jüngerer, fröhlich wirkender Götz in die Kamera. In seinen Augen lag ein stolzes Funkeln, das Kasdan an ihm nicht kannte. Der damals schon weißhaarige Mann stand strahlend unter den Mitgliedern seines Chors, seinem Instrument zur Erzeugung himmlischer Laute …
    Kasdan öffnete das CD -Fach und sah nach, ob die eingelegte CD tatsächlich das Miserere war. Mit einer behandschuhten Hand nahm er den Kopfhörer vom Klavier und schloss ihn an den Verstärker an. Nachdem er die Lautsprecherboxen ausgeschaltet hatte, startete er den CD -Spieler.
    Es war ein Schock.
    Er hatte schon Chorwerke gehört. Jeden Sonntag hallten armenische A-capella-Gesänge durch die Kathedrale Saint-Jean-Baptiste. Aber da sangen tiefe und martialische Männerstimmen.

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