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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Hier war es etwas ganz anderes. Das Miserere schien für Kinder geschrieben zu sein. Eine Polyphonie, die Akkorde von erschütternder Unschuld und Reinheit hervorbrachte.
    Das Werk begann mit langen, ätherischen Tönen. Man glaubte die vollen, hellen Klänge einer menschlichen Orgel zu hören, deren Pfeifen aus Kinderkehlen bestanden …
    Kasdan setzte sich mit dem Kopfhörer auf den Boden. Während er zuhörte, überflog er das Beiheft. Offenbar war das Miserere ein Hit der Vokalmusik. Ein Werk, das tausendmal aufgenommen worden war. Es stammte aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Gregorio Allegri hatte dem Chor der Sixtinischen Kapelle angehört, und die alljährliche Aufführung dieses Werkes war über 200 Jahre lang ein rituelles Ereignis geblieben. Ein Detail frappierte Kasdan: der Gegensatz zwischen dem düsteren Namen des Werkes, Miserere , und dem des Komponisten, Allegri, der an Freude, Festlichkeit und Lebenslust denken ließ.
    Plötzlich ertönte eine sehr hohe Stimme aus den Lautsprechern. Eine Stimme von so seltsamer, eindringlicher Sanftheit, dass sie etwas im Innern des Hörers zerbrechen ließ und ihm die Kehle zuschnürte. Die schwebende, entrückte Stimme eines kleinen Jungen, die sich jenseits der Akkorde scharf abhob und einer sehr hohen melodischen Linie folgte, als schwänge sie sich über die Welt empor.
    Kasdan spürte, wie sich seine Augen verschleierten. Guter Gott, er würde gleich anfangen zu weinen, hier, in der Wohnung eines Toten, um Mitternacht, mit seinem Kopfhörer und seinen Chirurgenhandschuhen auf dem Boden sitzend. Um das Gefühl, das ihn zu überschwemmen drohte, abzuwehren, konzentrierte er sich auf das Beiheft. Wilhelm Götz selbst hatte den Text verfasst. Er berichtete, wie ihm an einem verregneten Nachmittag im Jahr 1989 diese quasi göttliche Aufnahme völlig unerwartet geschenkt wurde. Einige Minuten zuvor spielten die Sängerknaben noch Fußball in den Gärten der Kirche Saint-Eustache in Saint-Germain-en-Laye, wo die Tonaufnahme gemacht werden sollte. Dann hatte der Solist, ein Junge namens Régis Mazoyer, die Knie noch lehmverschmiert, schon bei der ersten Aufnahme seinen Gesang angestimmt. Da geschah in der eiskalten Kapelle das Wunder. Die herrliche Stimme hallte unter den Gewölben des Kirchenschiffs wider …
    Wieder verschwammen die Zeilen. Erinnerungen zogen an Kasdans innerem Auge vorüber. Nariné. David. Plötzlich überkam ihn jene gewaltige Traurigkeit, die er zwar immer in seinem Innersten zu begraben versuchte, aber letztlich doch nie verscheuchen konnte. Das war die Macht dieses kleinen Sängerknaben, dieses Régis Mazoyer. Allein durch seine Stimme gelang es ihm, die dunkelste Schwermut hervorzuholen, die Verstorbenen in der Erinnerung wiederauferstehen zu lassen. Diejenigen, die einen nie in Frieden lassen.
    Kasdan drückte die Stopptaste. Er schaltete die Anlage aus und nahm die Stille wahr zwischen diesen Regalen mit Schallplatten und CD s und der mit Eierschachteln tapezierten Decke. Da spürte er so etwas wie ein unterschwelliges Signal. Eine Warnung. Ein Schlüssel zur Aufklärung dieses Mordes lag in dieser betörenden Stimme. Oder in dem Chorwerk, dem Miserere. Er stand auf, nahm die CD aus dem CD -Fach, legte sie in die Hülle und steckte sie ein. Dieses Werk würde ihm noch manches verraten. Er schaltete das Licht aus, öffnete das Rollo und verließ den Raum.
    Zurück im Wohnzimmer begann er die Schubladen gründlich zu durchsuchen. Er stöberte die persönliche Buchführung von Götz auf: Sozialversicherungsbelege, Kontoauszüge, Versicherungsverträge, Honorarabrechnungen diverser Vereine und Pfarreien. Der Armenier sichtete die Dokumente kursorisch. Nichts Interessantes. Außerdem war er nicht in der Stimmung, Zahlen zu prüfen.
    Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. Naseer hatte gesagt: »Willy fühlte sich überwacht.« Wurde er vielleicht abgehört? Womöglich auf traditionelle Weise, mit einer im Telefonhörer versteckten Wanze? Der Armenier schraubte das Telefon auf. Er verfügte über gründliche Erfahrungen auf dem Gebiet des illegalen Abhörens – aus seiner Zeit bei der Abteilung für Terrorismusbekämpfung. Natürlich nichts. Keine Spur von einem Mikrofon.
    Er setzte sich in einen Sessel und dachte nach. Was Götz betraf, stand seine Meinung fest: nicht nur diskret, sondern geradezu besessen von der Geheimniskrämerei. Falls es hier etwas zu finden gab, musste man die ganze Wohnung auseinandernehmen. Kasdan hatte weder die

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