Choral des Todes
kletterte in den Geländewagen, der ihn hierhergebracht hatte. Ohne ersichtlichen Grund musste er an einen Polizisten aus Kalkutta denken, den er im Jahr 2003 in Paris kennengelernt hatte. Er arbeitete bei der Zweigstelle von Interpol in Bengalen und fahndete in Frankreich nach einem Pädophilen, der Kinderpornos in Südostasien verbreitete.
Eines Abends hatte Volokine den Inder in ein französisches Restaurant eingeladen, in der Hoffnung, ihm mildere Gaumenfreuden als Curry oder scharf gewürzte Speisen nahezubringen. Da hatte ihm der Bengale von einem Symbol erzählt, das in seinem Land weit verbreitet ist und das Ziel seiner Ermittlungsarbeit auf den Punkt brachte: das Symbol des »vollkommenen Regens«. The perfect rain. Der Regen, der mit dem zweiten Monsun kommt, nachdem der erste Regenschauer die verschmutzte Atmosphäre gereinigt hat. Der Inder träumte von einem Internet – und einer Welt –, die von der Plage der Pädophilie vollkommen befreit ist. Eine Reinheit, die nach der ersten Säuberung eintreten würde …
Die Flügel des Tors öffneten sich, und der Wagen fuhr ins Innere der Kolonie. Volo begriff, wieso ihm dieses Symbol eingefallen war. Auch er dachte an diese Reinheit. Eine Welt, die befreit wäre von der Kolonie. Die Ermittlungen waren der erste Regenschauer gewesen, der die Luft gereinigt und die Elemente der Wahrheit bereitgestellt hatte. Jetzt war er ins Stadium des »vollkommenen Regens« eingetreten. Dem der großen Reinigung.
Doch Volokine wusste: Dieser Regen war ein Blutregen.
Er würde niemanden verschonen.
KAPITEL 71
»Wir fangen ganz von vorn an.«
»Spinnst du jetzt?«
»Seh ich so aus? Spiel mit, Kasdan, und in ein paar Stunden bist du daheim.«
»Verdammt …«
»Du sagst es. Also leg los!«
Kasdan fing von vorne an. Saint-Jean-Baptiste. Wilhelm Götz. Die Befragung der Chorknaben. Die Aussage Naseers. Die Entdeckung der Mikrofone. Er hatte keinen Grund mehr, irgendetwas zu verheimlichen. Also konnte er gleich alles auf den Tisch legen und die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Was weißt du über den Mord an Wilhelm Götz?«
»Der Typ ist vor Schmerzen gestorben. Ihm wurden die beiden Trommelfelle durchstochen.«
»Mit was für einer Waffe?«
»Die Waffe wirft ein Problem auf. Bei der mikroskopischen Untersuchung der Gehörorgane wurden keinerlei Spuren von irgendeinem Material gefunden. Aber das weißt du doch alles schon. Weshalb lässt du mich diese Untersuchungsergebnisse wiederholen?«
Statt zu antworten, klimperte Marchelier auf der Tastatur seines Rechners. Es hatte etwas Komisches, hier in seinem ehemaligen Büro zu sitzen, auf dem Stuhl des Zeugen oder des Beschuldigten. Er wusste nicht, was von beiden er war.
»Hast du etwas über Spuren bei diesem ersten Mordfall gehört?«, fuhr der Beamte der Mordkommission fort.
Kasdan sprach über die Schuhabdrücke. Die Holzsplitter. Dann kam er von sich aus auf den zweiten Mord zu sprechen. Naseer und sein ›tunesisches Lächeln‹. Die für die Verstümmelungen benutzte Waffe, die nicht identisch war mit der Waffe, mit der die Trommelfelle durchstochen worden waren. Eine Waffe aus Eisen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen musste. Er erwähnte das Zitat aus dem Miserere und den tieferen Sinn dieses Gebets: Sünde und Vergebung.
Diesen Hinweis verdankte er Volokine, doch er hatte beschlossen, den Jungen nicht zu erwähnen. Um ihn nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Schließlich hatte Volo seine Karriere noch vor sich.
»Warum wurden Götz und Naseer deiner Meinung nach ermordet?«
Kasdan sank auf seinem Stuhl in sich zusammen und antwortete in gedrücktem Ton:
»Um sie zum Schweigen zu bringen. Götz wollte gegen die Kolonie aussagen. Er hatte bestimmt mit Naseer darüber gesprochen. Aber das wisst ihr doch alles schon ganz genau. Die beiden Männer wurden doch abgehört!«
»Der Mord an Pater Olivier. Was weißt du darüber?«
Kasdan sprach über die Logik des oder der Mörder. Der Psalm. Die Verstümmelungen. Immer wieder Schuld und Sühne. Der Verdacht der Pädophilie, der auf dem Priester lastete. Das spurlose Verschwinden von Kindern aus dem Umfeld von Götz und Manoury …
»Weshalb erzählst du mir nicht etwas über deinen Kompagnon, Cédric Volokine?«
Kasdan war nicht überrascht. Er hatte den Russen Vernoux und Puyferrat vorgestellt. Logischerweise hatte Marchelier von ihm erfahren.
»Ein Typ vom Jugendschutzdezernat«, sagte er unwillig. »Er interessierte sich ebenfalls
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