Choral des Todes
Konturlinie eine Nummer – nach Art jener Kinderspiele, wo man die nummerierten Zonen farbig ausmalen muss. Die Gebäude 1 bis 11 in der Mitte des Plans waren von einer roten Borte eingefasst.
»Die rote Linie bedeutet, dass es verboten ist, sich diesen Gebäuden zu nähern. Verstanden?«
»Verstanden.«
Der Mann deutete auf die Nebengebäude und die landwirtschaftlichen Nutzflächen:
»Du wirst nach und nach alle Bereiche des Anwesens kennenlernen, die für deine Arbeit von Bedeutung sind. Die Orte, wo die Geräte und Maschinen gelagert werden. Die Scheunen. Die Silos. Die Viehställe. Wir haben außerdem eine Schule und ein Krankenhaus, die frei zugänglich sind. Aber du hast dort nichts zu suchen.«
Der Mann stopfte den Plan in seine Tasche. Er lehnte sich an den Wagen, die Arme lässig verschränkt. Er spielte den »guten Freund«, blieb aber gleichzeitig autoritär.
»Es gibt weitere Regeln. Zum Beispiel erkennen wir die Namen, die jemand draußen trägt, nicht an.«
Er zog den gefälschten Ausweis Volokines aus seiner Jacke.
»Ab jetzt heißt du nicht mehr Nicolas Girard, sondern, sagen wir, Jérémie.«
»Jérémie, einverstanden.«
»Solange du bei uns arbeitest, werden wir dich so nennen. Wir behalten deine Papiere ein. Du brauchst sie hier nicht.«
Was für einen Namen hatte er beim ersten Mal gehabt? Einen biblischen Vornamen, das war sicher, aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu identifizieren. Seine Erinnerungen waren noch verschwommen. Sporadisch.
»Im Übrigen«, fuhr der Mann fort, »sind dir Kontakte zu den Mitgliedern der Gemeinschaft verboten.«
»Ich werde nicht mit ihnen arbeiten?«
»Nein. Die Mitglieder der Kolonie arbeiten im Winter ausschließlich in den Gewächshäusern.«
»Verstanden.«
»Das ist sehr wichtig. Gelegentlich werden Wagenkolonnen vorbeifahren. Es ist verboten, mit den Insassen der Fahrzeuge zu sprechen. Auch ist es untersagt, dieselben Gegenstände und Materialien zu berühren.«
Volokine nickte. Mittlerweile hatte er eine militärische Haltung angenommen. Eine Art Habachtstellung.
»Du musst dir auch klarmachen, dass wir eine religiöse Gemeinschaft sind. Wir befolgen strikte Regeln. So tragen wir beispielsweise besondere Kleidung, und wir arbeiten nicht wie die anderen. Versuch nicht, diese Regeln zu verstehen. Am besten, du beachtest sie nicht weiter.«
Volo hakte nach:
»Und falls mich diese Regeln … interessieren sollten? Ich meine: für mich selbst?«
»Das ist möglich«, sagte der Mann lächelnd. »Das kommt oft vor. Dann werden wir uns noch mal darüber unterhalten. Aber das ist jetzt nicht aktuell. Kümmere dich erst mal um deine Arbeit.«
»Ich werd mein Bestes tun, M’sieur.«
»Sonntags hast du frei, aber es ist Pflicht, die Morgenmesse und das anschließende Konzert zu besuchen. Das ist ein Geschenk von uns an unsere Arbeiter.«
»Ein Geschenk?«
»Unserem Chor zu lauschen ist eine Art Reinigung, die sich in den Zeitplan der Woche einfügt. Der Boden wird hier in aller Reinheit bestellt. Und ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass jeglicher Kontakt zu den Frauen untersagt ist.«
Volokine schwieg. Eine Pause, die eine Einwilligung war. Der Mann strahlte. Er wollte fröhlich wirken, aber seine Zwitterstimme schnitt ihn von jeglicher Freude, ja sogar von jeglichem menschlichen Gefühl ab.
»Tatsächlich hast du hier nur eine Freiheit: Du kannst uns jederzeit verlassen.«
Volokine spannte seine Nackenmuskeln noch stärker an, um zu bekunden, dass er verstanden hatte. Nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper.
»Heute Abend klärst du mit der Verwaltung die Frage deines Lohns und die Versicherungsprobleme. Man wird dich jetzt zum Wohnheim bringen, wo du deine Sachen abstellen kannst, und anschließend zur Verwendungsstelle in Gebäude 18. Dort wird man dir sagen, was für eine Arbeit du heute erledigen sollst.«
Volokine griff nach seinem Seesack.
»Ein letzter Punkt«, sagte der Vorarbeiter. »Was ist das?«
Der Russe blickte auf: Der Mann hielt eine Schachtel Streichhölzer in seinem Handteller.
»Wir haben sie in deiner Tasche gefunden.«
»Das sind meine Streichhölzer, M’sieur.«
»Rauchst du?«
»Nein, M’sieur. Eine alte Gewohnheit aus der Zeit, als ich Schafe gehütet habe. Wenn meine Taschenlampe nicht mehr funktionierte, zündete ich eine Kerze an.«
Der Mann schmunzelte und warf ihm die Schachtel zu:
»Die Jungs werden dich in dein Quartier bringen. Anschließend geht’s zur Arbeit.«
Volokine
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