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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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einen erwartete. Eisenzäune. Leibesvisitation. Vernehmung. Anthropometrische Fotos, die mit einer Digitalkamera aufgenommen worden waren, während seine Tasche umgekrempelt wurde. Volokine fragte sich, welche Möglichkeiten die Sekte hatte, um seine Identität zu überprüfen. Man hatte ihn in einem Geländewagen bis zum zweiten Tor eskortiert.
    Jetzt wurde es richtig ernst. Das Einstellungsgespräch. Der Vorarbeiter war von den ersten Schergen verständigt worden. Als Volokine am zweiten Sicherheitszaun eingetroffen war, hatte er gleichzeitig einen zweiten Geländewagen gesehen, der sich mit heulendem Motor näherte.
    »Also, was weißt du?«
    »Nicht viel, M’sieur«, antwortete Volo in kleinlautem Ton. »In Millau hat man mir gesagt, dass Sie die Einzigen in der Region sind, die Leute einstellen. Ich meine, zu dieser Jahreszeit. Die Einzigen, die noch Arbeit haben …«
    Ein Lächeln umspielte die Lippen seines Gegenübers. Er war stolz auf seine Kolonie. Auf diese Fruchtbarkeit inmitten einer trockenen Region. Es war ein Mann von etwa dreißig Jahren mit einem großen, kräftigen Gesicht, aus dem zwei düstere schwarze Augen herausstachen. Mit den regelmäßigen Gesichtszügen, wie sie die ständige Nähe zur Erde gelegentlich verleiht, glich er einem modernen Landwirt. Das einzige Verstörende war die Stimme. Eine Stimme, die sich nach dem Stimmbruch nicht verändert zu haben schien. Oder die im Stimmbruch gleichsam »stecken geblieben« war, gewissermaßen in der Schwebe zwischen zwei Lebensaltern, zwei Geschlechtern.
    »Das stimmt«, sagte er. »Wir haben hier die Jahreszeiten abgeschafft. Oder, um genauer zu sein, wir haben unsere eigenen Jahreszeiten erschaffen, ohne Winter, ohne tote Zeit. Ein kontinuierlicher Kreislauf. Du willst für uns arbeiten?«
    »Aber ja, M’sieur.«
    »Du kennst unsere Bedingungen?«
    »Ich hab gehört, dass man gut bezahlt wird.«
    »Ich spreche von unseren Regeln. Du trittst in eine Gemeinschaft ein, verstehst du? Ein Gebiet, das seine eigenen Gesetze hat. Kapiert?«
    Der Vorarbeiter sprach mit ihm so, als hätte er einen Schwachsinnigen vor sich. Auf jede Frage nickte der Russe zustimmend mit dem Kopf.
    »Was hast du in letzter Zeit getan?«

Volo wühlte in seiner Umhängetasche:
    »Ich hab einen Lebenslauf dabei, M’sieur. In diesem Herbst hab ich bei der Weinlese mitgemacht und …«
    Der Mann entriss ihm die Tasche. Er nahm den Lebenslauf und seine Ausweispapiere an sich und reichte die Umhängetasche dann an seine Handlanger weiter, die sie ein weiteres Mal durchsuchten. Der Vorarbeiter überflog die »Biographie«, die Volokine vor seiner Abreise aufgesetzt hatte. Der erfundene Lebenslauf eines Landarbeiters, durchsetzt von orthographischen Fehlern.
    Der Mann ging in die Hütte. Abermals fragte sich Volokine, welche Mittel ihnen zur Überprüfung seiner Identität zur Verfügung standen. Minuten vergingen. Er hatte erwartet, dass er schier ausrasten würde, wenn er sich der Kolonie näherte. Befürchtet, dass die Erinnerungen hochkämen. Entsetzliche Dinge, die er tief in seinem Gehirn noch in Schach hielt. Elektroschocks. Das eiskalte Wasser. Schlafentzug. Das Auspeitschen. Aber nein. Im Augenblick füllten ihn die Empfindungen der Gegenwart vollkommen aus. Der Wind, der seinen kahl geschorenen Kopf umwehte. Die Rolle, die er spielen musste. Diese Zitadelle, in die er um jeden Preis hineingelangen wollte.
    Der Vorarbeiter kam zurück, in der Hand ein neues Blatt, das im Wind knatterte.
    »Sehr schön«, sagte er. »Wir werden dich einige Tage auf Probe arbeiten lassen.«
    Er faltete das Dokument auf der Motorhaube des Geländewagens auseinander. Es war ein Plan. Auf den ersten Blick erkannte man eine Art Blumenkrone: vier Kreisbögen, die weitläufig einen Block von Gebäuden umschlossen, die selbst kreisförmig angeordnet waren. Volokine ahnte, dass der Plan irreführend war. Jedenfalls enthielt er keinen Hinweis auf das Zentrum des Anwesens. Niemals hätte man einem Fremden Einblick in die exakte Topografie des Geländes gegeben.
    Der Vorarbeiter deutete auf ein freistehendes Gebäude, das im Süden lag.
    »Wir befinden uns hier. Am Eingangstor der Kolonie. Die Gebäude, die du da siehst …« Er wies auf die unteren Kreisbögen. »… sind die Orte, die für dich von Belang sind. Das Wohnheim für die Arbeiter und die Wirtschaftsgebäude. Sie tragen keine Namen, sondern Nummern.«
    Volokine beugte sich vor, um besser zu sehen. Tatsächlich trug jede geschlossene

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