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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Gefängnis des US -Bundesstaates Louisiana, glich.
    Abdel stieß eine Rauchwolke aus und blies dann in seine Hände, worauf er sagte:
    »Vergiss nicht die Redensart: ›Schnee im Dezember schützt die Ernte.‹«
    »Und wieso?«
    Der Maghrebiner lachte:
    »Keine Ahnung. Jedenfalls gibt es dieses Jahr keinen Schnee.«
    »Woher kommst du?«
    »Le Vigan. Ich komme jedes Jahr im Oktober hierher. Und du?«
    »Millau. Im Sommer verdinge ich mich da und dort als Erntehelfer. Danach arbeite ich bei der Weinlese. Normalerweise verdrücke ich mich im Winter in die Alpen. Als Skilehrer. Ich bleibe zum ersten Mal auf einer Farm. Finde das ziemlich hart.«
    »Du erstaunst mich.«
    Sie rauchten schweigend. Volokine betrachtete die Umgebung. Jenseits der Felder erstreckte sich eine karge Mondlandschaft. Es gab nur wenige Bäume, und graugrüne Felsen zeichneten sich am Rand der Pflanzungen ab. Ein trostloser Anblick, bei dem sich einem die Kehle zuschnürte. Hier war man mit Gott allein. Und selbst dafür musste man Glück haben.
    Volokine fand die Gelegenheit günstig, seinen Kameraden ein wenig auszuhorchen:
    »Wie ist es hier so? Ich meine: die Stimmung?«
    »Tödlich. Die Typen von der Kolonie sind erzreligiös. Übrigens kriegt man sie gar nicht zu Gesicht. Man sondert uns ab. Wir sind unrein, verstehst du?«
    »Nicht so ganz.«
    »Ich auch nicht. Aber ich kann dir sagen, es ist unmöglich, von diesen Feldern hier zu den Treibhäusern zu kommen, wo die anderen arbeiten.«
    »Du bist nie dort gewesen?«
    »Nein, das ist eine Schutzzone. Stacheldraht. Wachposten. Elektronische Schlösser, die über Fingerabdrücke funktionieren …«
    »Siehst du die Jungen manchmal?«
    »Von weitem. Sie wohnen auf der anderen Seite.«
    »Glaubst du, dass man übers Krankenhaus in die andere Zone kommt?«
    »Was suchst du?«
    Volokine ignorierte die Frage:
    »Was weißt du über die Kinder?«
    »Nicht viel. Es gibt Gerüchte. Wenn sie nicht auf den Feldern arbeiten, singen sie. Und wenn sie nicht singen, werden sie verprügelt.«
    »Weißt du Genaueres?«
    »Nein. Diese ganze Gemeinschaft ist total abgeschottet. Aber sie zahlen gut, und solange du dich an die Regeln hältst, schiebst du eine ruhige Kugel. Du …«
    Abdel warf seine Kippe weg und scharrte Erde darüber:
    »Scheiße.«
    Volokine vernahm seinerseits das Motorgeräusch. Er tat es seinem Kameraden gleich und verscharrte seine Kippe. Ein Lkw näherte sich langsam und rumpelnd.
    Der Russe musterte die Gestalten auf der offenen Ladefläche. Aufrecht stehend und unbeweglich. Ihre Gesichter wirkten im Gegenlicht wie weiße Kerzen. Sie trugen keine bayerischen Trachten, sondern Anzüge aus schwarzem Leinen. Darunter weiße Hemden mit Mao-Kragen. Dieses Detail verstärkte noch ihr mönchisches Aussehen.
    Der Lkw fuhr in einem Abstand von hundert Metern an ihnen vorbei. Volokine fiel ein Detail auf: Die Ladefläche war mit Holz verkleidet. Zweifellos damit die Passagiere keinen modernen Werkstoff berührten. Die Kinder trugen schwarze Baseballkappen. In dieser Entfernung erinnerten diese Kappen an die Hüte der Amish. Die Amish des Bösen.
    Der Russe zitterte, während das Fahrzeug im Staub verschwand.
    Er war für sie da.
    Er würde sie retten.

KAPITEL 73
    Er hatte diesen Moment schon einmal erlebt.
    Die abschließende Lösung, die unmittelbar bevorstand.
    Der Boden des Abflusses in Reichweite.
    Immer dieser gleiche paranormale Augenblick. Die Wahrheit, die so nahe ist, dass sie den Zeitpfeil gleichsam umkehrt und flüchtige Vorahnungen hervorruft. Dann spürt man in seinen Adern die Erschütterungen des zukünftigen Einschlags. Wie die unterirdischen Wellen eines Erdbebens, das nur Tiere wahrnehmen können.
    Mit über zweihundert Stundenkilometern raste Lionel Kasdan über die Autobahn, als ginge es um sein Leben.
    Ein Uhr morgens. Er fuhr an Clermont-Ferrand vorbei und weiter Richtung Süden nach Millau. Noch zweihundert Kilometer, dann würde er wie beim ersten Mal die N88 nehmen, um nach Florac zu gelangen. Er hatte keinen festen Plan. Keine Idee, wie er in die Kolonie eindringen oder mit Volokine Kontakt aufnehmen könnte. Er verließ sich auf die Intuition des Augenblicks und auch auf die bewaffneten Bauern. Rochas und seine Clique.
    Auf der Höhe von Puy hatte er vollgetankt und sich erleichtert. Jetzt hatte er schon wieder Harndrang. Ein Zeichen des Alters beziehungsweise der Angst. Oder beides. Er erspähte einen Parkplatz. Entfernte sich von den Lichtern der Autobahn, um in die

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