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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Krieg erlebte mein Vater eine mystische Krise. In den Ruinen Berlins hat er andere Verzweifelte um sich geschart. Unter seinen Anhängern waren viele Kinder. Waisen, die sich selbst überlassen waren. Meinem Vater war in den Gaskammern die besondere Kraft kindlicher Stimmen aufgefallen. Da kam ihm der Gedanke, seine Forschungen über die Stimme fortzusetzen. Plötzlich erhielt alles einen Sinn. Das beste Mittel, um sich Gott zu nähern, ist das Leiden. Dieses Leiden erlaubt es, in eine ganz neue Dimension der Stimme vorzustoßen. Nach der Überzeugung meines Vaters schenkte Gott ihm eine Waffe: den Schrei, der tötet.«
    Angesichts dieser Wahnideen Hartmanns fühlte sich Volokine frei, leicht und schwebend. Sein Eindringen ins Innere der Kolonie wirkte auf ihn wie eine Katharsis. Er hatte keine Angst mehr vor seinen Erinnerungen. Er hatte keine Lust mehr auf Drogen. Er hatte die dünne Membran, die den Abszess in seinem Unbewussten umhüllte, durchstochen. Jetzt floss der Eiter ab. Diese Befreiung, diese innere Ruhe war die Heilung. Und wenn er sterben musste, würde er in vollkommener Reinheit sterben.
    »Seit zehn Jahren praktiziere ich asiatische Kampfsportarten«, sagte er. »Diese Geschichten über den ›tötenden Schrei‹ sind nichts als Ammenmärchen, Legenden.«
    »Legenden haben immer einen wahren Kern! Weißt du nicht, dass der antike Gott Pan berüchtigt war wegen seines Gebrülls, das Reisende in Angst und Schrecken versetzte? Dass das Wort ›Panik‹ diesem Mythos entstammt? Wusstest du, dass die Irländer einen besonderen Schrei benutzten, um ihre Feinde in die Flucht zu schlagen? Einen Kriegsschrei, der im Gälischen sluagh-gairm heißt und von dem sich das Wort ›Slogan‹ herleitet? Der Schrei steht im Mittelpunkt unserer Kulturen, Cédric. Im Zentrum unserer Körpers. Wir kehren nur zu diesem Ursprung zurück. Wir besinnen uns auf den Mythos, damit der Mythos Wirklichkeit wird.«
    »Blödsinn.«
    Hartmann atmete tief durch. Der Verdruss des Weisen angesichts der ewigen Unwissenheit der Welt.
    »Formulieren wir es anders. Du würdest dich wundern, welche Kraft der Schrei dank unserer Technik erreicht. Der Schmerz, die Angst legen eine Stimme in der Stimme frei. Ein Schrei aus dem tiefsten Innern des Körpers, der den gesamten Stimmapparat bis zum Äußersten anspannt und ungeahnte Schwellen überschreitet.«
    Volokine erinnerte sich an seine »Behandlungen« in der Kolonie. Stromstöße. Schläge. Verbrennungen. Und Schreie. Schreie, die in den unterirdischen Gängen widerhallten. Aufgezeichnet. Studiert. Analysiert. Die Stimme, die bricht und die im Gegenzug die Welt zerbrechen soll.
    Die Angst kehrte zurück. Diese Angst, die ihn nie verlassen hatte und deren Ursache ihm jetzt dämmerte. Die Mistkerle, die in seinem Körper herumgestöbert hatten, um den Schrei hervorzurufen. Mit Stromstößen und raffinierten Foltermethoden hatten sie versucht, diese Kraft im Innern seines kindlichen Organismus aufzuspüren.
    Angewidert fragte er:
    »Warum ausgerechnet Kinder?«
    »Weißt du, woher das Wort ›Askese‹ stammt? Es leitet sich vom altgriechischen Wort askaris her, das ›Übung‹, ›Gewohnheit‹ bedeutet. Ein Wort, das einen an Ausbildung und Disziplin, aber auch an Kunst denken lässt. Die Kinder sind meine Werke! Ich strebe danach, Meisterwerke aus ihnen zu machen. Bei den Schreien erzielen Kinder die besten Ergebnisse. Kleine Stimmbänder erreichen eine unübertroffene Schallstärke. Mittels des Schmerzes gelingt es uns, die Länge dieser Fasern zu beschränken. Auf diese Weise erhalten wir das Organ vollkommen rein, frei von den Schlacken der Sexualität.«
    Volokine zitterte. Er hatte genug gehört. Er wollte auf den Fall zurückkommen. Die Motive der Mordserie.
    »Warum die vier Morde?«
    »Eine Kettenreaktion. Wilhelm Götz arbeitete für uns. Aber als er sich an diese Anwältin wandte, wurde uns klar, dass er gegen uns aussagen wollte. Wir mussten ihn ausschalten. Seinen jungen Schatz haben wir im gleichen Aufwasch getötet. Womöglich besaß er Informationen. Als Pater Olivier alias Alain Manoury die Neuigkeit erfuhr, hat er seinerseits die Nerven verloren. Seit unserer Ankunft in Frankreich war er eine Art Handlungsreisender für unsere Gemeinschaft. Auch er hätte auspacken können.«
    »Und Régis Mazoyer?«
    »Eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Régis hat sich hier aufgehalten. Vielleicht hatte er ja den Zweck unserer Forschungen verstanden. Als du ihn befragt hast, warst du

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