Choral des Todes
über fünfzig Kilometer weit marschiert. Du warst im Schockzustand getrampt. Und bis auf deinen Namen hast du dich an nichts erinnert. Niemand wusste, woher du kamst. Weshalb sollten wir das Risiko eingehen, einzugreifen? Zwischen dir und der Kolonie Asunción ließ sich keine Verbindung herstellen.«
»Habt ihr mich vermisst?«
Volokines Stimme triefte vor Ironie.
Woher diese Kaltblütigkeit?
»Du warst ein begabter Sänger. Aber wir hätten mit dir nichts anfangen können. Zu hart, zu chaotisch. Es ist uns nicht gelungen, deine Kraft in eine konstruktive Waffe umzuwandeln. Außerdem hatte dein Stimmbruch bereits begonnen, als du geflohen bist.«
Hartmann näherte sich zwischen den von hinten beleuchteten Stelen. Die abscheulichen Objekte, die sich langsam mit den Gläsern drehten, warfen algenfarbige Lichtreflexe auf sein altes Schlächtergesicht. Er trug ein Sakko aus schwarzem Leinen und glich einem Schauspieler der sechziger Jahre, an dessen Namen sich Volokine nicht mehr erinnerte. Kasdan hätte es gewusst.
»Errätst du, wo wir sind?«
Volokine antwortete nicht.
»In einem Museum. Einer Kunstsammlung, die mein Vater vor über sechzig Jahren in Auschwitz aufzubauen begann.«
Hartmann breitete die Arme aus und deutete auf die Organe, die in ihren rosa leuchtenden Türmen schwebten:
»Gurgeln. Luftröhren. Kehlköpfe. Stimmbänder. Das Stimmorgan. Der Gegenstand der Forschungen meines Vaters. Das war seine Passion. Er wollte diese Kinderorgane, die gewisse wunderbare Leistungen vollbracht hatten, konservieren. Eine Tradition aus Auschwitz. Josef Mengele sammelte verschiedenfarbige Augen, Föten und Gallensteine, Johann Kremer ›frische‹ Leberproben. Das Besondere an der Sammlung meines Vaters war die Methode der Konservierung. Seine Methode war eine Vorläuferin der heutigen Plastinationstechniken. Formalin, Aceton, Kunstharze … Aber lassen wir das … Das Entscheidende ist, dass wir diese Sammlung behalten und im Lauf der Jahre erweitern konnten.«
In seiner schwarzen Matrosenjacke und mit seinem müden alten Löwenkopf glich Hartmann einem Bösewicht aus einem James-Bond-Film. Volo fand es faszinierend, ein solches Gesicht in der Wirklichkeit zu betrachten. Er verstand weder seine Ruhe noch seine innere Distanz. Es war, als hätte er einen Mega-Joint geraucht.
»Das Paradoxe«, fuhr der Deutsche fort, »liegt darin, dass diese Sammlung nur aus Misserfolgen besteht. Kehlen, die nicht das Ziel erreichten, das uns vorschwebte. Organe, die wir in letzter Minute vor dem Stimmbruch gerettet haben, denen es aber nicht gelang, die Welt zu zerstören. Die Meisterleistung, die wir immer gesucht, immer erhofft haben …«
»Ich verstehe nichts von eurem Schwachsinn.«
»Der Schrei, Cédric. Der Schrei steht im Mittelpunkt unserer Forschungen.«
Volokine lächelte weiter. Er spielte mit den Nerven des Deutschen. Obwohl sein Schicksal besiegelt war, besaß er noch diese Fähigkeit. Hartmann war ein Hai, und die Angst war sein Ozean. Sein natürliches Element. Durch seine Haltung stand Volo im Begriff, dieses Meer trockenzulegen.
»Das Schicksal des Vaters steht am Anfang der Lebensgeschichte aller bedeutenden Personen«, fuhr der Deutsche fort. »Die Geschichte von Ödipus ist zunächst die von Laios, seinem Vater, der einen Knaben vergewaltigte. Und die Psychoanalyse wäre nie entstanden ohne das Vergehen Jakobs, des Vaters von Sigmund Freud, der verheimlichte, dass er eine zweite Ehefrau hatte.«
»Am Anfang steht also immer ein schuldhaftes Tun. Was hat sich dein Vater zuschulden kommen lassen?«
Hartmann lächelte verkniffen. In diesem Augenblick ähnelte er dem, was er war: einem Menschenfresser. Eine Märchenfigur, die in einem Zauberwald auf Beute lauerte.
»Als mein Vater in Tibet die Mantras tibetanischer Mönche hörte, erhielt er eine Vorstellung von der Wirkung der Stimme auf Materie. Schallwellen konnten Gegenstände in Schwingung versetzen. Sie zum Zerbersten bringen. Diese Entdeckung wurde in Auschwitz bestätigt. Mein Vater beobachtete die Juden in den Duschen. Er zeichnete ihre Schreie auf. Er stellte Phänomene fest. Elektrische Glühbirnen zerbarsten wie rohe Eier unter der Einwirkung der Stimme. Eisengitter lockerten sich unter dem Einfluss von Schallwellen. Aufgrund der Schreie, denen sie ausgesetzt waren, begannen die Ohren von Gefangenen zu bluten. Der Stimmapparat war ein brachliegendes Gebiet. Eine potenzielle Waffe, die eine ungeahnte Stärke entwickeln konnte.
Nach dem
Weitere Kostenlose Bücher