Choral des Todes
draußen«, meinte er dann. »Er hält Wache.«
»Geht ihr Streife?«
Der Bergsteiger lächelte. Falten um die Lider verrieten, dass er älter war, als man im ersten Moment vermutete.
»Sie glauben, alles zu überwachen«, flüsterte er. »In Wirklichkeit überwachen wir sie.«
»Können Sie mit Rochas Kontakt aufnehmen?«
Der Mann trat aus dem Türrahmen heraus, ohne Kasdan hereinzubitten. Im Gegenteil: Er musterte ihn argwöhnisch. Ein Polizist aus Paris, sichtlich übernächtigt, zitternd, all dies um sechs Uhr früh.
»Was ist denn so dringend?«
Kasdan erläuterte die Lage. Volokine. Die Jahre, die er als Kind in der Kolonie verbracht hatte. Dass er diese Nacht vermutlich nicht überleben werde, wenn sie nicht sofort eingriffen.
»Treten Sie ein. Und beruhigen Sie sich. Ich werde Rochas anrufen.«
Im bewohnten Trakt eines Bauernhofs hofft man immer Wärme und Behaglichkeit zu finden, die die Härte der Außenwelt gleichsam aufwiegen. Doch meist erwartet einen das Gegenteil. Ein gefliester Boden, unverputzte Wände. Einige bunt zusammengewürfelte Möbel. Keine Heizung. Man ist im Innern, tatsächlich aber noch immer draußen. In der Kälte und der Unwirtlichkeit.
»Kaffee?«
Der junge Mann wohnte in einem großen dunklen Zimmer. Darin stand ein großer Tisch, der mit einem Wachstuch bezogen war, bei dessen Anblick es einem kalt den Rücken hinunterlief.
»Kaffee«, antwortete Kasdan. »Aber nehmen Sie Kontakt mit Rochas auf.«
Der Mann eilte geschäftig hin und her. Die Küche nahm eine Ecke des Zimmers ein. In einem finstren Winkel gegenüber ein zerwühltes Bett. Das ganze Leben war in diesem Raum verdichtet.
Die Kaffeemaschine ratterte. Dann das Knistern eines Funkgeräts. Der Typ rief seinen Chef an.
Er servierte den Kaffee in zwei Bechern.
»Ist Rochas bereit, einzugreifen?«
»Das können Sie ihn selbst fragen. Zucker?«
Kasdan schüttelte den Kopf. Nahm einen Schluck. Die wohlige Empfindung besänftigte ihn. Er musste ruhig bleiben. Diese kleine Armee überzeugen. Ohne sie kein Eingreifen. Ohne Eingreifen keine Rettung.
Er ließ einige Sekunden verstreichen und fragte dann:
»Seit wann leben Sie in Arro?«
Der Mann trug Gore-Tex-Stiefel.
»Schon immer.«
»Sind Sie hier geboren?«
»Ich bin der Sohn von Pierre Rochas.«
In diesem Moment und nur in diesem Moment bemerkte Kasdan die eigentümliche Klarheit des Blicks, der auf ihm ruhte. Er erinnerte sich an den außerordentlichen Glanz der Augen Rochas’. Der Sohn hatte diese kristallenen Regenbogenhäute von seinem Vater geerbt.
»Sie sind mir eine Erklärung schuldig.«
Kasdan drehte sich zu der Stimme um, die in seinem Rücken widerhallte. Die Gestalt von Rochas senior zeichnete sich gegen den dunklen Hintergrund ab. Dichtes Haar, breite Schultern, in einem leuchtenden Anorak steckend, ein Sturmgewehr, unter die Achseln geklemmt. Ein Bild, das heroische Kraft ausstrahlte.
Der Ex-Polizist wiederholte seine Geschichte. Er hob hervor, dass Volokine in den nächsten Stunden enttarnt würde. Falls es nicht bereits geschehen sei.
»Ihr Kollege ist bescheuert.«
»Volokine ist ein Super-Polizist. Aber er hat eine Kamikaze-Mentalität.«
»Und Sie glauben, dass wir die Kolonie einfach so angreifen? Zum Frühstück?«
»Ich spreche nicht von einem Angriff, sondern von einer gezielten Operation. Sie kennen die Kolonie Asunción. Sie wissen bestimmt, wie man hineingelangt. Wir müssen Volokine herausholen. Das hat Priorität. Danach haben wir genügend Zeit, um die Polizei zu verständigen.«
Rochas betrat den Raum und nahm sich einen Becher Kaffee. In seiner stoischen Ruhe ähnelte er der kargen Landschaft draußen.
»Entweder ihr Schützling wurde noch nicht enttarnt. Dann gibt es keine Probleme. Die Zone der Landarbeiter ist leicht zugänglich. Oder sie haben ihn bereits geschnappt, und die Sache ist sehr viel schwieriger, wenn nicht unmöglich.«
»Machen Sie mit, oder soll ich allein gehen?«
Rochas lächelte und wandte sich in sachlichem Ton an seinen Sohn.
»Du weckst die anderen.« Zu Kasdan sagte er: »Sie kommen mit mir. Ich werde Ihnen die Operation unterwegs erklären.«
»Haben Sie bereits eine Idee?«
Rochas trat einen Schritt vor. Die Klarheit seiner Augen weckte Erinnerungen ans Meer. Eine kleine Bucht, eine Lagune.
»Der Gedanke war schon immer da.« Er wies mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe. »Nur die Gelegenheit fehlte.« Er schmunzelte abermals. Ein äußerst gewinnendes Lächeln. »Aber vielleicht
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