Choral des Todes
musste um die fünfzig sein. Eine korpulente Frau mit grauem, in der Mitte gescheiteltem Haar. Auch sie war als Kobold verkleidet. Ein knallgrüner Trägerrock. Schwarze Schuhe mit großen Schnallen in Schmetterlingsform. Schellenkappe.
Kasdan zückte den blau-weiß-roten Ausweis, den er heimlich behalten hatte. Wie alle schwermütigen Polizisten hatte er seinen Ausweis sechs Monate vor seiner Pensionierung als verloren gemeldet. Darauf erhielt er ein neues Dokument, das er bei seiner Verabschiedung zurückgegeben hatte. Seinen alten Ausweis dagegen hatte er, wie einen Fetisch, sicher verwahrt.
»Ich gehöre zu den Polizisten, die im Mordfall Wilhelm Götz ermitteln«, sagte er schließlich.
France Audusson zog die Kappe aus, deren Schellen bimmelten:
»Ich habe heute Morgen die Untersuchungsergebnisse aus Mondor erhalten. Kommen Sie mit.«
Unter den verdutzten Blicken der anderen als Kobolde verkleideten Krankenschwestern folgte er ihr auf dem Fuß. Sie gingen an mehreren Holzverschlägen entlang, und erst nach einer ganzen Weile begriff der Ex-Polizist, dass es sich um echte Büros und nicht bloß um Kulissen handelte. Die HNO -Spezialistin schloss die vorletzte Tür auf, die mit einem Rentier-Profil geschmückt war.
»Wir bereiten die Weihnachtsfeier für die Kinder vor«, erklärte sie.
Sie betraten ein winziges Zimmer. Ein Schreibtisch an der rechten Wand, davor ein Sessel, ein weiterer Sessel seitlich, alles begraben unter Akten, schematischen Zeichnungen von Trommelfellschnitten, mit Nadeln befestigten CT -Aufnahmen. Mit seinen hundertzehn Kilogramm wagte sich Kasdan kaum zu rühren.
»Nehmen Sie doch Platz«, bot sie ihm an, während sie einen Aktenstapel von dem Sessel rechts wegräumte.
Vorsichtig kam er der Einladung nach, während die Frau die Träger ihres Kleiderrocks abstreifte und sich aus ihrer Verkleidung schälte. Sie trug einen Unterziehpullover und schwarze Jeans, die eng an ihrem drallen Leib anlagen. Sie hatte schwere Brüste, und ihr weißer BH schimmerte unter den dunklen Maschen hervor und zeichnete kleine verschneite Gipfel. Kasdan spürte eine Hitzewelle in seinem Schritt. Das Gefühl behagte ihm.
»Es gibt ein Problem mit den Untersuchungsergebnissen«, sagte sie und griff nach einem an die Wand gelehnten Umschlag. Sie setzte sich hin und öffnete ihn. »Das Labor hat nichts gefunden.«
»Sie wollen sagen: keine Absplitterungen?«
»Nichts. Die Leute in Mondor haben Feinschnitte des Felsenbeins unter dem Elektronenmikroskop betrachtet. Sie haben chemische Tests durchgeführt. Ohne Ergebnis. Nicht der kleinste Splitter, kein Span, nichts.«
»Was bedeutet das?«
»Die bei der Tat verwendete Nadel muss aus einer Legierung bestehen, die so hart ist, dass sie beim Auftreffen auf den Knochen nicht gesplittert ist. Das ist wirklich seltsam. Denn die Nadel ist zwischen den Gehörknöchelchen bis zur Schnecke vorgetrieben worden. Es gab also eine Reibung. Doch das Instrument hat keinerlei Spuren hinterlassen.«
»Wie muss man sich die Nadel vorstellen?«
»Sehr lang. Sie hat sich wie eine sehr starke Schallwelle durch das Gehörorgan bewegt. Die Spitze hat die Haarzellen der Schnecke zerstört, in der sich das Corti-Organ befindet. Ich werde Ihnen die Aufnahmen mit dem Elektronenmikroskop zeigen.«
Sie breitete auf ihrem Schreibtisch Schwarz-Weiß-Abzüge aus. Die Bilder schienen unterseeische Ebenen mit verwüsteten Seegrasfeldern zu zeigen. Diese Aufnahmen wirkten wie aus einem Albtraum. Zum einen weil sie ein Gewimmel unidentifizierbarer mikroskopischer Lebewesen zeigten. Zum anderen weil das chaotische Gewirr der Haare an die zerstörerische Kraft einer Flutwelle erinnerte.
»Die äußeren Haarzellen, die Sie sehen«, fuhr die Spezialistin fort, »sind die sensiblen Teile, die Schallwellen auffangen und verstärken. Wie Sie sehen können, wurden die Haare durch die Waffe zerstört. Wenn das Opfer überlebt hätte, wäre es für den Rest seines Lebens taub gewesen.«
Kasdan sah auf. Sein Blick fiel abermals auf die Brüste, aber diesmal ließ ihn der Anblick gleichgültig.
»Dr. Mendez hat von einer Stricknadel gesprochen. Was meinen Sie?«
»Nein. Die Nadelspitze ist viel dünner.«
Die Frau stand auf und deutete auf ein Schaubild an der Wand: eine Art bunt gemusterte Schnecke. Mit dem Zeigefinger wies sie auf eine schmale Passage:
»Auf dieser schematischen Darstellung des Gehörorgans sehen Sie die Gehörknöchelchen, die hier einen winzigen Korridor bilden. Die Nadel
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