Choral des Todes
Belastungszeugen. Kinder, die schreckliche Angst haben und unter Schock stehen. Keiner bringt ein Wort aus ihnen raus – außer Volokine.«
Kasdan musste daran denken, dass er bei den Sängerknaben nichts erreicht hatte.
»Wie stellt er das an?«
»Keine Ahnung. Er weiß, wie er mit ihnen umgehen muss, wie er ihr Vertrauen gewinnt. Er kann ihr Schweigen und ihre bruchstückhaften Sätze deuten. Er kann ihre Zeichnungen und ihre Gesten interpretieren. Ein echter Psychologe. Und hartnäckig. Er arbeitet Tag und Nacht. Man erzählt sich im Scherz über ihn, dass er die Putzfrauen, die nachts arbeiten, besser kennt als seine Kollegen.«
Der Armenier fragte sich plötzlich, ob er da nicht einen potenziellen Verbündeten gefunden hatte. Ein Außenseiter wie er selbst, aber fünfunddreißig Jahre jünger und mit praktischen Fähigkeiten, die ihm fehlten.
»Hast du die Adresse der Entzugsklinik?«
Greschi gab dem Armenier die Anschrift des Heims, das fünfzig Kilometer von Paris entfernt war. Allerdings bekräftigte er noch einmal, dass ihm der Mann in seinem gegenwärtigen Zustand wohl kaum eine große Hilfe sein werde. Der Armenier verabschiedete sich.
Er nahm sich eine Stunde Zeit, um mehr über Volokine in Erfahrung zu bringen. Als Erstes rief er bei der Polizeihochschule Cannes-Écluse an und verlangte den Studienberater. Mit einem selbstbewussten Auftreten, einer Matrikelnummer und einer gewissen Zungenfertigkeit bekam man von jedem Kollegen jede beliebige Auskunft.
»Ja, ich erinnere mich«, sagte der Beamte. »Er war von September 1999 bis Juni 2001 bei uns. Bleiben Sie dran, ich hole mir seine Akte.« Eine Minute später meldete sich der Mann wieder am Apparat. »Außergewöhnliche Begabung. Bester seines Jahrgangs. Hervorragende Zensuren in allen Fächern. Und ein Mann mit Mumm. Mutig, hartnäckig, spontan.«
»Wie alt war er, als er die Schule im Juni 2001 verließ?«
»Dreiundzwanzig Jahre. Er wurde im September 1978 geboren.«
»Wo?«
»Paris, 9. Arrondissement.«
»Laut meinen Aufzeichnungen ist er nach dem Besuch der Hochschule ins Pariser Drogendezernat eingetreten.«
»Es war sein Wunsch. Bei seinen Leistungen hätten ihm alle Türen offengestanden.«
»Genau. Wieso hat er keine höhere Laufbahn angestrebt? Etwa im Innenministerium?«
»Büroarbeit war nicht seine Sache. Überhaupt nicht. Er wollte auf der Straße sein. Dealer hochnehmen.«
Kasdan dankte dem Beamten und legte auf. Greschi hatte gesagt, dass Volokine Waise sei. Kasdan wählte die Nummer des Jugend- und Sozialamts. Volokines leibliche Eltern waren nicht unbekannt. Er war auch nicht von Geburt an Waise. Ausgesetzte Kinder tragen immer Namen, die sich aus Vornamen zusammensetzen – Jean-Pierre Alain, Sylvie André. Außerdem wird ihre Geburt immer dem Jugend- und Sozialamt gemeldet, das im 14. Arrondissement seinen Sitz hat. Was darauf hindeutet, dass diese Kinder unter einem ungünstigen Stern geboren worden sind.
Wie nicht anders erwartet, bekam Kasdan einen äußerst zugeknöpften Beamten an die Strippe. Der Mann stieß zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen nur einige wenige Wörter hervor. Immerhin erhielt Kasdan eine Adresse. Das erste Kinderheim, in dem Cédric Volokine 1983 in Épinay-sur-Seine aufgenommen worden war. Er war damals fünf Jahre alt.
Nachdem Kasdan mit mehreren Personen gesprochen hatte, unterhielt er sich mit einer alten Frau, die sich an den Jungen erinnerte. Der Armenier behauptete, dass er einen Artikel für die interne Dienstzeitung der Kripo schreibe, weil Cédric Volokine wegen hervorragender Leistungen eine Belobigung erhalten habe.
»Ich wusste es«, rief die Frau triumphierend, »ich wusste, dass Cédric Erfolg haben würde.«
»Wie war er?«
»Vielseitig begabt! Wussten Sie, dass er sich das Klavierspiel ganz allein, ohne Lehrer, beigebracht hat? Er sang auch die Messe. Eine Engelsstimme. Er hätte Mitglied der Chanteurs à la Croix de bois werden können, wäre da nicht sein Großvater väterlicherseits gewesen.«
»Erzählen Sie mir mehr.«
»Brauchen Sie wirklich all diese Auskünfte?«
»Erzählen Sie mir, was Ihnen einfällt. Ich sehe dann, was ich nehme.«
»Wir haben Cédric aufgenommen, als er fünf Jahre alt war. Sein Vater war kurz nach seiner Geburt gestorben. Ein Alkoholiker, ein Nichtsnutz, der sich so durchschlug.«
»Und die Mutter?«
»Sie trank ebenfalls. Außerdem war sie psychisch krank. Nach der Geburt von Cédric entwickelte sie sich gewissermaßen zurück.
Weitere Kostenlose Bücher