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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Zusammenarbeit gelegt war.
    Als Kasdan die Rue des Fossés-Saint-Bernard hinunterging, an der die Universität Jussieu liegt, dachte er ein weiteres Mal an den heruntergekommenen Polizisten, der an der Orgel von Saint-Jean-Baptiste gespielt hatte. Es gab nur eine Erklärung: Der Führungsstab der Gendarmerie hatte ihn eingeschaltet. Bei jeder bedeutenden Strafsache wird ein Bericht für die Place Beauvau verfasst. Vernoux musste ihn gestern Abend per Telex losgeschickt haben. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls war dieser Volokine über alle Vorkommnisse informiert. Wer unterrichtete ihn?
    In dieser Dienststelle arbeiteten einige Frauen, die sich den vierundzwanzigstündigen Bereitschaftsdienst teilten. Womöglich war ja eine der Polizistinnen in den aufsässigen Kollegen verknallt. Selbst Sarkis war die Attraktivität des jungen Mannes aufgefallen. Aber woher wusste Volokine von dem Schuhabdruck?
    Kasdan rief Puyferrat an. Der Techniker meldete sich umgehend:
    »Mensch, Kasdan, das ist Belästigung, was du da machst, ich …«
    »Hat dich heute Morgen ein Beamter vom Jugendschutzdezernat wegen Götz angerufen?«
    »Ja, gleich nach unserem Gespräch, kurz vor neun Uhr.«
    »Hast du ihm von dem Schuhabdruck erzählt?«
    »Ich weiß nicht mehr … Ich glaube schon. Aber er war doch bereits auf dem Laufenden, oder? Er selbst hat mir von den Jungs erzählt …«
    Eine Verwechslung. Volokine hatte die Kollegen von der Spurensicherung nur angerufen, um sie über den Mord auszuhorchen. Als er die Sängerknaben erwähnte, hatte Puyferrat gefolgert, dass er bereits über die Converse-Schuhe im Bilde war. Und so hatte er seine spektakuläre Entdeckung preisgegeben.
    »Hast du dich nicht gefragt, wieso er auf dem Laufenden ist«, brummte Kasdan, »wo du doch deinen Bericht noch nicht einmal an Vernoux geschickt hattest?«
    »Du hast Recht. Mist, daran hab ich nicht gedacht. Ist das schlimm?«
    »Vergiss es. Ruf mich an, wenn du die Ergebnisse der Analyse hast.«
    Kasdan blickte auf seine Uhr: elf. Er gelangte ans Ende des Quai d’Austerlitz, wo die Hochbahn den Weg versperrte. Linker Hand, am gegenüberliegenden Seine-Ufer, erhob sich die riesige Flachdach-Pyramide des Sportpalasts von Bercy. Der Armenier wandte sich in diese Richtung. Es war Zeit, die HNO -Spezialistin im Klinikum Trousseau zu befragen. Die Ergebnisse der Untersuchungen am Hörorgan von Wilhelm Götz mussten ihr mittlerweile vorliegen.

KAPITEL 12
    Das Klinikum Armand-Trousseau glich einem Bergarbeiterdorf, dessen Backsteinhäuschen versetzt worden waren, um an ihrer Stelle eine Folge quadratischer Innenhöfe anzulegen. In jedem neuen Patio schienen die grauen, rosa- und cremefarbenen Fassaden zusammenzurücken, um einen zu zerquetschen. Mit dem Auto bewegte man sich durch diesen Irrgarten wie eine Ratte in einem Käfig.
    Kasdan verabscheute Krankenhäuser. Sein ganzes Leben lang hatte er in regelmäßigen Abständen an diesen düsteren Orten verweilen müssen. Sainte-Anne und Maison-Blanche in Paris, aber auch Ville-Évrard in Neuilly-sur-Marne und Paul Guiraud in Villejuif … Im Schutz dieser Kliniken hatte er seinen persönlichen Krieg geführt, dessen Schlachtfeld sein Gehirn gewesen war. Wahn und Wirklichkeit prallten dort so lange aufeinander, bis sie schließlich einen – stets brüchigen – Waffenstillstand schlossen. Dann wurde Kasdan entlassen, instabil, verängstigt und mit einer Gewissheit, so sicher wie das Amen in der Kirche: In Bälde würde er hierher zurückkehren.
    Trotzdem betraf seine schlimmste Erinnerung an ein Krankenhaus nicht ihn und seine psychische Erkrankung, sondern seine Frau Nariné. Kasdan hatte sie auf einer armenischen Hochzeit kennengelernt. Damals, mit zweiunddreißig, war er einer der Helden des Dezernats zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens gewesen. Zuerst hatte er sie leidenschaftlich geliebt, dann nur noch geschätzt und schließlich regelrecht gehasst. Am Ende war sie zu einem bloßen Objekt geworden, das zu seinem Leben gehörte wie sein Schatten oder seine Dienstwaffe. Er hätte diese fünfundzwanzig gemeinsamen Jahre nicht wirklich beschreiben können. Aber eines war sicher: Keinem anderen Menschen war er so nahe gekommen wie Nariné. Und das galt auch umgekehrt. Sie hatten zusammen alle Lebensalter, alle Höhen und alle Tiefen durchgemacht. Doch wenn er sich heute an sie erinnerte, sah er nur noch eine Szene, eine einzige, immer dieselbe. Sein letzter Besuch in ihrem Krankenzimmer in der Necker-Klinik,

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