Choral des Todes
wenige Stunden vor ihrem Tod.
Diese Frau hatte nichts mehr mit dem Menschen gemein, mit dem er sein Schicksal geteilt hatte. Ungeschminkt und ohne Perücke glich sie einer ausgemergelten Bronzestatue in einem Kleid aus grünem Papier. Sie sprach seltsam, distanziert, wegen des Morphiums. Und jedes ihrer Worte, das keinen Sinn mehr ergab, war wie ein kleiner Tod, der sich in Kasdans Gehirn einbrannte.
Trotzdem lächelte er, während er an ihrem Bett saß. Dann wandte er den Blick ab und betrachtete die Geräte, die seine Ehefrau umgaben. Die grünlichen Leuchtkurven des Physiogard. Die langsame Infusion, in der sich das weiße Licht der Neonröhren schillernd widerspiegelte. Diese Instrumente, diese Infusionsgeräte erinnerten ihn an das ganz persönliche Ritual eines Drogensüchtigen – Heroinschuss oder Opiumpfeife. Diese Apparate und die regelmäßigen Gesten, die sie erforderten, hatten etwas Akribisches, Mörderisches. Es ging also so zu Ende, wie es begonnen hatte – im Zeichen von Rauschgiften. Denn als Kasdan zum ersten Mal den Vornamen seiner künftigen Frau hörte, hatte er ihn sofort mit dem Wort Nargileh – Wasserpfeife – in Verbindung gebracht …
Nariné sprach noch immer. Und ihre sinnlosen Worte hielten ihn auf Abstand. Hier sprach ein Gespenst, das bereits vom Tod durchdrungen war. Er erinnerte sich an ein Ereignis, das sehr weit zurücklag. Kamerun 1962. Eines Abends hatten Dorfbewohner ein Fest organisiert. Trommeln, Palmwein, nackte Füße, die die rote Erde aufwirbelten. Er erinnerte sich insbesondere an eine Tänzerin. Sie hob ihr Gesicht zum Sternenhimmel, öffnete träge die Arme, drehte sich um sich selbst, ein starres, abwesendes Lächeln auf den Lippen. Man hätte sie für eine Schlafwandlerin halten können. Vor allem ihr Blick war faszinierend. Ein konzentrierter Blick, der in eine unergründliche Ferne gerichtet schien und dadurch ungreifbar und hochmütig wirkte. Es dauerte einige Minuten, bis Kasdan die Wahrheit erkannte: Die Tänzerin war blind. Und das, was sie betrachtete, war das taube Herz des Rhythmus, die Rückseite der Nacht.
Nariné erinnerte ihn an diese Tänzerin. Ihre Worte schwebten im Schatten. Ihr Blick war auf einen anderen Ort gerichtet, auf ein namenloses Jenseits. An diesem Abend hatte Kasdan auf seinen Wagen verzichtet. Er war zu Fuß im Viertel Duroc herumgeirrt. Er war anderen Blinden begegnet – das Institut für die Sehbehinderten war nur wenige Schritte von der Necker-Klinik entfernt. Er hatte den Eindruck, sich in einer Welt von Zombies zu bewegen, in der er der einzige noch lebende Mensch war.
Als er schließlich nach Hause gekommen war, erwartete ihn eine Nachricht: Nariné war gestorben, während er umhergeirrt war. Da begriff er, dass er sich immer an das bizarre Geschöpf erinnern würde, das er vor kurzem verlassen hatte. Die Erinnerung an dieses Gespenst würde alle anderen Bilder überblenden.
Kasdan hielt auf dem Klinikgelände und schloss die Augen. Er presste die Handflächen auf die Schläfen, um die übermächtigen Erinnerungen zu bändigen, und atmete tief ein. Als er die Augen aufschlug, war er wieder im Hier und Jetzt. Trousseau, die HNO -Spezialistin. Seine Ermittlungen.
Auf der Rückseite eines Innenhofs machte er den Pavillon André-Lemariey ausfindig. Ein Gebäude aus hellen Ziegelsteinen, mit dunkel gefärbten Regenwasserschlieren. An der Pforte Nr. 6 waren die verschiedenen Fachgebiete des Trakts aufgeführt, darunter auch die HNO -Abteilung.
Schon im Foyer wurde der Ton vorgegeben. An die Wände geklebte Nashörner, Löwen und Giraffen. Holzverschläge, quadratisch angeordnete bunte Sitzbänke. Eine Menge Spielzeuge … Kasdan erinnerte sich an die Worte von Mendez: »Eine Klinik, in der taube Kinder behandelt werden, für die immer Weihnachten ist.« Mehrfarbige Girlanden und Kugeln hingen von der Decke, in einer Ecke blinkte ein Tannenbaum.
In der Mitte des Raumes bauten Krankenschwestern mit grünen Schellenhauben eine Theaterbühne aus Holz und Filz auf.
Er ging auf sie zu, wobei er gleichzeitig die Gerüche von Medikamenten wahrnahm. Sein Unbehagen wuchs. Mit einem Mal empfand er eine Verbindung zwischen dem Leichnam von Götz und dieser trostlosen Atmosphäre auf einer Station für Kinder, die von der Außenwelt abgeschnitten waren.
»Ich suche Dr. France Audusson.«
Die roten Vorhänge vor der kleinen Bühne gingen auf. Eine Frau mit breiten Schultern erschien:
»Das bin ich. Was wollen Sie?«
France Audusson
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