Choral des Todes
bereit, mit allen Mitteln Witwen, Waisen und Unschuldige zu verteidigen … vor allem wenn sie aus seiner Heimat stammen.«
»Wie hast du von dem Mord erfahren?«
»Der Führungsstab der Gendarmerie. Eine Freundin von mir hat dort Bereitschaftsdienst. Sie gibt mir Tipps.«
Kasdan hatte also richtiggelegen. Volokine hatte eine Komplizin.
»Vögelst du sie?«, fragte er augenzwinkernd.
»Nein.« Volokine drehte seine Zigarette fertig, die er jetzt allerdings nicht »würzte«. »Ich bin nicht so wie Sie.«
»Wie ich?«
»Ich hab gehört, dass Sie selbst ein Mauerloch ficken.«
Der Armenier empfand gemischte Gefühle. Einerseits fühlte er sich geschmeichelt, weil ihm noch immer der Ruf eines Schürzenjägers anhaftete. Und aus dem gleichen Grund war er gekränkt. Diese Legende, die er während seines Berufslebens sorgfältig gepflegt hatte und die nicht ganz der Wahrheit entsprach, erschien ihm heute vulgär. Im Vergleich zu ihm strahlte dieser schlecht rasierte, abgezehrte junge Mann eine verführerische Reinheit aus.
»Lassen wir das! Man hat dir also Vernoux’ Fernschreiben zugespielt?«
»Ja, per E-Mail.«
»Um wie viel Uhr?«
»Gestern Abend gegen 23.00 Uhr.«
»Und heute Morgen hast du den Erkennungsdienst angerufen?«
»Hören Sie schon mit den Fragen auf. Sie kennen doch die Antworten.«
»Aber es gibt da etwas, was ich nicht weiß: Wieso interessiert dich dieser Fall überhaupt?«
»Er betrifft Kinder.«
»Er betrifft ein Kind. Einen Zeugen. Hältst du dich für einen Experten?«
Der Russe bedachte ihn mit jenem strahlenden Lächeln, das gewiss die Sekretärinnen bei der Polizeipräfektur dahinschmelzen ließ.
»Kasdan, Sie wissen doch über mich Bescheid. Also vergeuden wir keine Zeit.«
»Du bist beim Jugendschutzdezernat. Hast die Pädophilen auf dem Kieker. Gewaltverbrechen sind nicht dein Ding. Und du bist auch kein Psychologe, der den Auftrag hätte, die in den Fall verwickelten Kinder zu befragen.«
Der Russe zündete sich seine Zigarette an und richtete sie auf Kasdan:
»Sie brauchen mich.«
»Um die Jungen zu befragen?«
»Nicht nur. Um zu begreifen, worum es in diesem Fall geht.«
Kasdan lachte hellauf.
»Sei so nett und gib mir einen Hinweis.«
Der junge Polizist nahm einen langen Zug und warf einen Blick auf den alten Profi. Seine Augen funkelten in dem stärker werdenden Regen wie zwei Kristalle. Regentropfen perlten von seinen Wimpern. Kasdan begriff. Die Apathie, die Reizbarkeit eines Typen, der sich mitten im Entzug befindet, all das war reine Tarnung – ein Täuschungsmanöver.
Hinter dem Wrack verbarg sich ein Genie.
Ein Soldat, der ein einsatzfreudiger Partner sein konnte.
»Die Abdrücke der Baskettballschuhe.«
»Was ist damit?«
»Sie stammen nicht von einem Zeugen.«
»Wie?«
»Sie stammen vom Täter.«
Die hellen Augen bohrten sich in die Pupillen Kasdans.
»Der Mörder ist ein Kind, Kasdan.«
»Ein Kind?«, wiederholte der Armenier mechanisch.
»Ich vermute, dass Götz pädophil war. Einer der Knaben des Chors hat mit ihm abgerechnet. Das ist die Geschichte. Die Rache eines missbrauchten Knaben. Eine Verschwörung von Kindern.«
KAPITEL 16
Auf dem Rückweg ging ihm ein Satz durch den Kopf. Eine berühmte Erwiderung Raimus in dem Film Das unheimliche Haus von Henri Decoin. Darin rief ein alkoholsüchtiger Rechtsanwalt dem Gericht zu: »Kinder sind niemals schuldig!« Kasdan wiederholte diesen Satz mit lauter Stimme: »Kinder sind niemals schuldig.«
Dann vernahm er wieder die ungeheuerliche Behauptung Volokines: »Der Mörder ist ein Kind.« Absurd. Schockierend. Schwachsinnig. Während seines gesamten vierzigjährigen Berufslebens hatte Kasdan noch nie von einem Mord gehört, den ein Kind begangen hätte – einmal abgesehen von sehr seltenen Meldungen in der Rubrik »Vermischtes«. Das also war seine Ausbeute. Er war fünfzig Kilometer weit gefahren, er hatte drei Stunden geopfert, um sich diesen Mist anzuhören.
Seine Meinung über Volokine stand fest. Der junge Russe hatte ein Rad ab. Ein Mann, der sich in einem Zustand starker innerer Anspannung befand, weil er in seiner Kindheit ein Trauma erlitten haben musste. Und jetzt sah er überall Kinderschänder. Ein Handschlag, der Austausch von Handynummern, und dann hatte Kasdan ihm zu verstehen gegeben, er möge sich in der Klinik erholen und ihm nicht mehr bei seinen Ermittlungen in die Quere kommen.
Er sah auf seine Uhr: 21.00 Uhr. In weniger als dreißig Minuten wäre er in seiner
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