Choral des Todes
Einwanderer, der Musikliebhaber. Aus purem Widerspruchsgeist warf Kasdan ein:
»Wussten Sie, dass er homosexuell war?«
»Ja, ich habe es geahnt.«
»Hat Sie das nicht gestört?«
»Wieso hätte mich das stören sollen? Sie scheinen die Dinge sehr eng zu sehen, Inspektor.«
»Halten Sie es für möglich, dass Götz ein Doppelleben führte?«
»Sie meinen im Zusammenhang mit seiner Homosexualität?«
»Oder mit etwas anderem. Mit ungewöhnlichen, perversen Sexualpraktiken …«
Kasdan rechnete mit einer empörten Reaktion – er ging bewusst ein bisschen zu weit. Aber er erntete lediglich Schweigen. Der Priester schien nachzudenken.
»Ist Ihnen etwas aufgefallen?«, bohrte der Armenier nach.
»Da ist etwas anderes …«
»Was wissen Sie?«
»Vielleicht hat das nichts damit zu tun … Aber wir hatten ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
»Jemand ist verschwunden, jemand aus unserem Chor.«
»Ein Kind?«
»Ja, ein Kind. Vor zwei Jahren.«
»Was ist geschehen?«
»Der Chorknabe ist verschwunden, das ist alles. Von heute auf morgen. Ohne Spuren zu hinterlassen. Zuerst haben wir geglaubt, er wäre ausgerissen. Die Ermittlungen ergaben, dass der Junge seine Sachen vorbereitet hatte. Aber seine Persönlichkeit ließ einen solchen … Entschluss nicht erwarten.«
»Warten Sie, ich fahre an die Seite.«
Kasdan befand sich unter der Hochbahn auf dem Boulevard de la Chapelle. Er stellte den Wagen im Schatten der Eisenkonstruktion ab, stellte den Motor ab und zog sein Notizbuch hervor.
»Wie heißt der Junge?«, fragte er atemlos, während er die Schutzkappe von seinem Filzstift nahm.
»Tanguy Viesel.«
»War er Jude?«
»Nein, Katholik. Vielleicht ist er jüdischer Abstammung, ich weiß es nicht. Sein Familienname wird mit V geschrieben.«
»Wie alt war er?«
Die Stimme des Paters klang nun schärfer:
»Sie sprechen in der Vergangenheit. Nichts deutet darauf hin, dass er tot ist.«
»Wie alt war er, als er verschwand?«
»Elf.«
»Unter welchen Umständen ist er verschwunden?«
»Nach einer Probe. Wie die anderen Kinder hat er die Kirche an einem Dienstagabend um sechs Uhr verlassen. Er ist nie in der Wohnung seiner Eltern angekommen.«
»Wann war das?«
»Zu Beginn des Schuljahres, im Oktober 2004.«
»Gab es ein Ermittlungsverfahren?«
»Selbstverständlich, aber es verlief ergebnislos.«
»Erinnern Sie sich noch, welches Dezernat die Ermittlungen durchführte?«
»Nein.«
»Den Name desjenigen, der die Ermittlungen leitete?«
»Nein.«
»War es vielleicht das Jugendschutzdezernat?«
»Nein.«
»Weshalb haben Sie mir diese Geschichte erzählt? War Wilhelm Götz tatverdächtig?«
»Natürlich nicht! Worauf wollen Sie hinaus?«
»Wurde er vernommen?«
»Wir wurden alle vernommen.«
Kurzes Schweigen. Kasdan spürte, dass eine Enthüllung bevorstand.
»Hochwürden, wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie es mir bitte.«
»Das ist alles, was ich weiß. Wilhelm war die letzte Person, die Tanguy an diesem Abend gesehen hatte.«
Der Priester verstummte abrupt.
»Weil er den Chor leitete?«, fragte Kasdan.
»Nicht nur. Wilhelm beendete die Probe und verließ die Kirche. Daher ging er ein Stückchen Weges zusammen mit einigen Schülern. Die Polizisten haben ihn gefragt, ob er Tanguy begleitet hatte …«
»Und?«
»Wilhelm Götz verneinte dies. Er habe nicht denselben Weg genommen.«
»Wie lautet die Adresse der Eltern des Kindes?«
»Ist das für Ihre Ermittlungen wichtig?«
»Alles ist wichtig.«
»Die Viesel wohnen im 14. Arrondissement. In der Rue Boulard 56, nahe der Rue Daguerre.«
Kasdan notierte sich die Anschrift und fuhr fort:
»Ist das alles, was Sie mir über Götz sagen können?«
»Ja. Und um es noch einmal klarzustellen: Im Fall Viesel bestand nie der geringste Verdacht gegen ihn. Ich bedauere es, mit Ihnen darüber gesprochen zu haben.«
»Nur keine Sorge, ich habe verstanden. Ich werde morgen bei Ihnen vorbeischauen.«
»Weshalb?«
Beinahe hätte Kasdan geantwortet: »Um in deinen Augen zu lesen, was du mir verschwiegen hast.« Doch er begnügte sich mit einem »Reine Formsache«. Nachdem er aufgelegt hatte, überlief ihn ein Schauder. Das Verschwinden des Jungen und der Mord an Götz konnten durchaus miteinander zusammenhängen.
Kasdan steckte sein Notizbuch und seinen Filzstift ein und heftete den Blick einen Moment auf die hohen bogenförmigen Bauten der Hochbahn. Er dachte an die Enthüllungen von Mendez. Der Verdacht einer perversen sexuellen
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