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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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18.00 Uhr. In der Entzugsklinik würde bald das Abendessen serviert. In Gedanken versunken bestieg er die S-Bahn. Er versuchte das, was er über Kasdan herausgefunden hatte, zusammenzufassen. Dreiundsechzig Jahre alt, 1,88 Meter groß, hundert Kilogramm. Spitzenermittler, Geheimagent, Ausbilder, Spürhund. Aber auch ein Armenier, ein schwermütiger Exilant, der jeden Sonntag die Kirche besuchte, der auf Hochzeiten Charles Aznavour imitierte – diese Information stammte von einem anderen armenischen Polizisten, mit dem er telefoniert hatte – und der aus dem Engagement für seine Gemeinschaft Kraft schöpfte. Ein getriebener, vielleicht depressiver, zerrissener Mensch. Eine Art Intellektueller, ein Knauser, der als Schürzenjäger galt, aber seine Frau nicht verlassen hatte.
    Als Volo in der Entzugsklinik eintraf, tauchte plötzlich vor seinem inneren Auge ein Bild auf. Kasdan glich einer Splitterbombe, die jederzeit hochgehen konnte. Wenn Doudouk nicht explodiert war und seine tödliche Ladung nicht in alle Himmelsrichtungen geschleudert hatte, so allein wegen seiner Arbeit als Polizist, die ihn psychisch stabilisiert hatte und funktionieren ließ.
    Volokine öffnete das Tor, ohne zu läuten, und schlich über das unbebaute Grundstück, das einen Garten ersetzte. Er hockte sich in eine Schubkarre – sein übliches Versteck, um sich einen Joint zu drehen. Er fällte ein Urteil über seinen Rivalen. Ein potenzieller Partner, mit dem er keine Gemeinsamkeiten hatte, außer einer: die Berufung als Polizist. Kurz, die wichtigste.
    Bequem in die Schubkarre gelehnt, öffnete Volokine, dem bereits die nächtliche Kälte in die Knochen drang, mit einem Fingernagel eine Craven auf ganzer Länge. Gemächlich verteilte er den hellen Tabak auf zwei aneinandergeklebte Blättchen Zigarettenpapier. Das Quietschen des Tors ließ ihn die Augen heben – und er erstarrte.
    Durch die Gittertür näherte sich die Splitterbombe in Person.
    Lionel Kasdan stapfte mit schweren, plumpen Schritten auf ihn zu.
    Sandfarbener Drillichanzug und ein um den Hals gewickelter langer Turbanschal.
    Volo grinste.
    Er hatte mit diesem Besuch gerechnet, wenn auch nicht so bald.

KAPITEL 15
    »Hallo!«, sagte Kasdan.
    Keine Antwort.
    »Du weißt, wer ich bin, oder?«
    Schweigen.
    Im Schein der Lampe an der Gittertür konnte Kasdan sein Gesicht eingehend mustern. Viel deutlicher als auf dem Foto. Als Erstes fiel ihm die Schönheit des Mannes auf. Sarkis hatte nicht gelogen: Trotz der regennassen Haare und seines Dreitagebarts ging etwas Strahlendes von dem jungen Mann aus. Regelmäßige Gesichtszüge, große helle Augen unter dichten Brauen – fast eine feminine Schönheit, ein fein gezeichneter, sinnlicher Mund, der an junge Rocksänger erinnerte, Erben des Grunge .
    »Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fuhr er fort. »Komm schon, lass das Theater.«
    Volokine zuckte nicht einmal mit der Wimper. Die Absätze gegen die Wände der Schubkarre gestützt, starrte er auf einen fernen Punkt. Den Nieselregen, der ihm die Strähnen durchtränkte, schien er gar nicht wahrzunehmen.
    Der Armenier sah sich um: Zaunlatten, die auf Böcken lagen. Er entschied sich für rohe Gewalt. Mit beiden Händen packte er eine der Latten und drehte sich um, als wolle er sie dem Junkie auf den Schädel donnern.
    Doch alles, was er zuwege brachte, war der Ansatz der Bewegung. Volokine hatte seine beiden Arme bereits in der Luft mit seiner linken Hand abgeblockt. Was die Rechte betraf, so spürte Kasdan das Zittern der geballten Faust, die nur wenige Millimeter vor seiner Kehle innehielt. Ein eisiger Schauer durchlief ihn – verbunden mit der Erkenntnis, dass der junge Rebell ihn trotz seiner hundert Kilo und seiner vermeintlichen Kraft auf der Stelle hätte erledigen können.
    »Ich sehe, dass die Reflexe zurückkommen.«
    Volokine nickte. Der helle Tabak, den er auf einem Blättchen in den Falten seines Jacketts verteilt hatte, hatte sich nicht bewegt.
    »Sie sind besser als deine, Opa!«
    Kasdan trat einen Schritt zurück und befreite sich aus dem Griff. Er warf die Latte auf den Boden.
    »Daran zweifle ich nicht, mein Junge. Aber es wäre mir lieber, wenn du dir die unfreundlichen Spitznamen verkneifen würdest.« Er klatschte in die Hände. »Wie wär’s, wenn wir uns miteinander bekannt machen würden?«
    »Kein Bedarf. Ich habe mich über Sie erkundigt.«
    »Das wollte ich wissen. Und was hast du über mich herausgefunden?«
    »Lionel Kasdan. Armenischer Kreuzritter,

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