Choral des Todes
Wohnung. Er würde sich einen heißen Kaffee brauen und sich in Fachbücher vertiefen. Die politische Fährte erschien ihm am plausibelsten. Morgen früh würde er bestens über die Geschichte Chiles Bescheid wissen.
Er erreichte gerade die Pariser Ringautobahn, als sein Handy läutete.
»Hier Mendez.«
»Gibt’s was Neues?«
»Nein und ja. Die toxikologischen Tests sind, wie erwartet, negativ ausgefallen. Aber es gibt etwas anderes.« Der Rechtsmediziner hustete und fuhr dann fort: »Ein merkwürdiges Detail. Ich habe die pathologische Analyse der Narben abgeschlossen – insbesondere der Narben am Penis. Ich habe sie unter dem Mikroskop betrachtet.«
»Und?«
»Sie stammen nicht aus den siebziger Jahren. Mit Sicherheit nicht. Einige enthalten sogar Hämosiderin, Spuren von Eisen, also von Blut. Das bedeutet, dass sie sich gerade erst geschlossen haben …«
»Du meinst, er wurde in diesem Jahr gefoltert?«
»Nicht gefoltert, nein. Meiner Meinung nach ist es etwas Spezielleres …«
»Wieso?«
»Er hat sich selbst verstümmelt. Die Narben an seinem Glied sind typisch für bestimmte Praktiken. Man bindet sich das Glied ab, um gewisse Erregungszustände herbeizuführen …«
Der Armenier schwieg. Mendez fuhr fort:
»Wenn du wüsstest, was wir manchmal sehen … Erst letzte Woche habe ich ein Stück von einem Penis erhalten. Mit der Post. Das Stück war …«
»War Götz deiner Meinung nach pervers veranlagt?«
»Möglicherweise war er ein Sadomasochist. Man kann das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass sich der Typ Schnitte am Pimmel beigebracht hat …«
Kasdan dachte an Naseer, den kleinen Schwulen. Ob er Götz’ Partner bei diesen perversen Spielchen gewesen war? Er dachte an ihre erotischen Praktiken im Wasserspeicher. Dies führte ihn auf eine neue Spur: die seltsame Welt von Menschen, die ungewöhnlichen Sexualpraktiken frönten. Und plötzlich stand eine neue Hypothese im Raum: War Götz von einem unbekannten sadistischen Spielkameraden ermordet worden?
»Ist das alles?«
»Nein, auch die Prothese gibt Rätsel auf.«
»Was für eine Prothese?«
»Ich hab dir gestern gesagt, dass Götz operiert wurde. Mit Hilfe der Nummer der Prothese hätte ich eigentlich herausfinden müssen, wo sie hergestellt wurde und wo der Eingriff stattfand.«
»Und?«
»Fehlanzeige! Ich habe zwar in Erfahrung gebracht, dass sie von einem großen französischen Unternehmen angefertigt wurde, aber ich konnte nicht das Krankenhaus ermitteln, das sie erworben hat.«
»Wie erklärst du dir das?«
»Offenbar ist sie exportiert worden. Aber dann gäbe es beim Zoll entsprechende Unterlagen. Dem ist aber nicht so. Sie hat Frankreich verlassen, ohne eine Grenze passiert zu haben. Ein Rätsel.«
Kasdan wusste nicht, was er davon halten sollte. Vielleicht nur ein Fehler bei einer Behörde. Im Augenblick interessierte den Armenier die andere Entdeckung – die möglichen SM -Praktiken des Chilenen.
Kasdan dankte Mendez – noch ein Untersuchungsergebnis, das er einige Stunden vor Vernoux erfahren hatte – und legte auf.
Abfahrt von der Ringautobahn. Er bog in die Rue de la Chapelle ein und freute sich über den zügigen Verkehr. Normalerweise war diese Straße immer verstopft. Auch die Lichter und die Lebendigkeit des nächtlichen Paris im Regen erfreuten ihn. Vierzig Jahre lang hatte er seine Stadt bei Nacht kreuz und quer durchfahren, und doch war er es noch immer nicht leid.
Ein weiterer Anruf.
Kasdan hob ab, während er in die Rue Marx-Dormoy einbog.
»Monsieur Kasdan?«
»Ja«, sagte er, ohne die Stimme zu erkennen.
»Ich bin Pater Stanislas. Ich leite die Pfarrei Notre-Dame-du-Rosaire im 14. Arrondissement.«
Einer der Priester, die er heute nicht angetroffen hatte, als er die Kirchen abgeklappert hatte.
»Ich habe gehört, was mit Wilhelm Götz passiert ist. Es ist schrecklich. Unfassbar.«
»Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Vater Sarkis. Er hat mir eine Nachricht hinterlassen. Wir sind gut miteinander bekannt. Sind Sie der Inspektor, der mit den Ermittlungen betraut ist?«
»Inspektor«: Wie viele Jahrhunderte würde man diesen Ausdruck wohl noch benutzen, der in Frankreich völlig veraltet war? Aber dies war nicht der Moment für Belehrungen.
»Ja, das bin ich«, antwortete Kasdan.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich brauche Informationen über Götz. Ich will wissen, wer er war.«
Der Priester zeichnete das übliche Porträt. Der vorbildliche
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