Choral des Todes
Neigung. Und jetzt dieses Verschwinden eines Kindes … Kasdan fragte sich, ob Götz wirklich so unschuldig war … Es kostete ihn Mühe, die drei Wörter »Homosexueller«, »Perverser« und »Pädophiler« nicht in einen Topf zu werfen.
Hatte Volokine vielleicht doch recht?
Kasdan versuchte sich zusammenzunehmen. Die Art und Weise des Tathergangs widersprach der Hypothese eines minderjährigen Täters. Der spitze Gegenstand als Tatwerkzeug. Die unbekannte Legierung. Der anvisierte Körperteil – die Trommelfelle. All dies schien den Racheakt eines Kindes auszuschließen.
Kasdan bog wieder in den Boulevard de Rochechouart ein.
Kinder sind niemals schuldig.
Die Erwiderung aus dem Film klang jetzt hohl.
KAPITEL 17
Cédric Volokine hatte sich herausgeputzt.
Schwarzer Anzug, nicht mehr ganz frisch. Weißes Hemd aus zu dicker Baumwolle, mit abstehendem Kragen. Zerknitterte dunkle Krawatte, wie sie auch Kinder trugen, deren unechter Knoten einen Gummi unter dem Kragen verbarg. Darüber eine schwere khakifarbene Drillichjacke.
Diese Aufmachung hatte etwas Rührendes – etwas Unbeholfenes, Naives. Ganz abgesehen von den Basketballschuhen, die nicht zum Rest passten. Obendrein noch ein Converse-Modell! Kasdan sah darin den schlagenden Beweis für die Nähe Volokines zu den Chorknaben der Kathedrale.
Der Russe wartete wie ein Anhalter vor dem Eisengitter von Cold Turkey . Sobald er Kasdans Volvo näher kommen sah, griff er nach seiner Tasche und lief ihm entgegen.
»Na, Opa, hast du es dir anders überlegt?«
Kasdan hatte ihn in aller Frühe angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er ihn um zehn Uhr abholen würde. Der Deal war einfach: ein Tag, um die Kinder erneut zu befragen und irgendwie zu beweisen, dass seine Hypothese richtig war. Kasdan hatte Greschi, dem Chef des Jugendschutzdezernats, eröffnet, dass er Volo aus der Versenkung hervorholen und »als Praktikant« unter seine Fittiche nehmen werde. Der Kommissar wirkte überrascht, hatte aber nicht nachgehakt.
»Steig ein.«
Volokine ging um den Wagen herum. Kasdan fiel auf, dass er eine Umhängetasche der Armee bei sich hatte. Eine jener Taschen, in denen die Soldaten des Ersten Weltkriegs ihre Handgranaten herumschleppten.
Der Russe stieg ein, und der Armenier fuhr los. Auf den ersten Kilometern schwiegen sie sich an. Nach etwa zehn Minuten setzte der junge Mann das Spielchen vom Vortag fort. Zigarettenpapier, heller Tabak …
»Was machst du?«
»Was glaubst du? Der Direktor der Anstalt gibt uns den Shit. Er behauptet, er wäre bio. Im Speisesaal steht auf einem Schild: ›Es lebe der Hanf!‹ Sehen Sie, was das für ein Typ ist?«
»Hat man dir nie gesagt, dass es schlecht für die Nervenzellen ist?«
Volokine führte die Zungenspitze über die Klebefalz des Zigarettenpapiers und klebte zwei Blättchen aneinander.
»Wo ich herkomme, ist das ein geringeres Übel.«
Kasdan lächelte:
»In Kamerun sagten sie: Eine Kugel in den Hintern ist besser als eine Kugel ins Herz.«
»Genau. Wie war Kamerun?«
»Weit weg.«
»Von Frankreich?«
»Und von heute. Manchmal fällte es mir schwer zu glauben, dass ich dort gewesen bin.«
»Ich wusste nicht, dass es damals dort unten einen Krieg gab …«
»Da bist du nicht der Einzige. Und das ist auch besser so.«
Volokine pfriemelte vorsichtig ein Stück Cannabis aus seiner Aluminiumverpackung. Mit einem Feuerzeug versengte er eine der Ecken und zerkrümelte den Stoff über dem Tabak. Der verführerische Geruch des Rauschgifts breitete sich im Innern des Wagens aus. Kasdan öffnete sein Fenster und dachte, dass der Tag schon jetzt eine seltsame Wendung nahm.
Er beschloss, gleich zum Kern der Sache zu kommen.
»Wie hast du von Tanguy Viesel erfahren?«
»Von wem?«
»Tanguy Viesel? Der verschwundene Sängerknabe aus dem Chor von Notre-Dame-du-Rosaire?«
»Welcher Junge? Welcher Chor?«
Kasdan warf Volokine einen kurzen Blick zu – der junge Mann war gerade dabei, seinen Joint zuzukleben.
»Du hast nichts gewusst?«
»Ich schwöre, Euer Ehren«, antwortete Volo, während er die rechte Hand mit dem Joint emporhob.
Kasdan schaltete herunter und bog in den Autobahn-Zubringer ein. In der Nacht hatte er herausgefunden, welche Abteilung mit den Ermittlungen im Fall des verschwundenen Tanguy betraut worden war: Es war die Dritte Kriminalpolizeidirektion, Avenue du Maine, und nicht das Jugendschutzdezernat. Vielleicht war der Russe wirklich nicht auf dem Laufenden.
Er rückte mit einer knappen Erklärung
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