Choral des Todes
gewöhnlich erst postum erhält.
Fehlverhalten.
Paris 1977: Ein Ganove aus Marseille wird nach einer rasanten Verfolgungsjagd, die in der Sackgasse Robert-Estienne im 8. Arrondissement endet, von der Polizei überprüft. Einige Stunden später stirbt der Mann in den Diensträumen der Kripo am Quai des Orfèvres 36, nachdem er von Kasdan verhört wurde. Dieser erklärt zu seiner Verteidigung lediglich: »Ich habe das nicht kommen sehen.« Die Autopsie ergibt, dass er eine Gehirnerschütterung infolge eines Schlags erlitten hat. Ereignete sich dieser Schlag bei der Verfolgungsjagd oder während des Verhörs? Die Frage lässt sich nicht klären. Das Verfahren gegen Kasdan wird eingestellt.
1979.
Doudouk verschwindet für drei Jahre. (Volokine fand kein Dokument über diesen Zeitraum.) 1982 taucht der Armenier wieder auf. Die Ära Mitterrand, wegen der illegalen Lauschangriffe, die der Präsident selbst anordnete, auch »Wanzenjahre« genannt. Kasdan ist in die Sache verwickelt. Christian Prouteau, der Gründer der Spezialeinheit der Gendarmerie zur Terrorismusbekämpfung ( GIGN ), hat gerade seine Mannschaft aufgestellt. Er möchte Kasdan für die Einheit gewinnen – sie haben sich am Schießstand kennengelernt. Zweifellos beteiligt sich Kasdan an den rechtswidrigen Lauschangriffen gegen politische Rivalen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Journalisten. Außerdem sagt er beim Prozess gegen Christian Prouteau im Jahr 1998 als Zeuge aus. Aber er übersteht dies unbeschadet.
1984 verschwindet er erneut spurlos.
Im Jahr 1986 ruft der damalige Innenminister Pierre Joxe das Sondereinsatzkommando der Polizei ( RAID ) ins Leben. Broussard leitet diese Abteilung. Er erinnert sich wieder an Hauptmann Kasdan. Der Armenier ist fast vierzig Jahre alt. Er hat eine Frau und einen fünfjährigen Sohn. Seine Sturm-und-Drang-Zeit ist vorüber. Er wird Ausbilder der Scharfschützen. Kasdan ist ein Experte auf dem Gebiet der halbautomatischen Pistolen. Er gibt den Anstoß dazu, dass diese Modelle bei den Sicherheitsbehörden allgemein eingeführt werden.
In Bièvres, wo die Angehörigen des RAID trainieren, gehen die Jahre dahin. Im Jahr 1991 verpflichtet sich Kasdan weiter. Er tritt in die Mordkommission ein. Bis dahin hatte sich Doudouk noch nie ausschließlich mit Ermittlungsarbeit befasst. Er war ein Mann der Tat, ein Agent, ein Ausbilder gewesen und hatte sich nie mit der Suche nach Indizien, Schreibkram, Verfahrensvorschriften, wissenschaftlichen Analysen befasst … Im Alter von siebenundvierzig Jahren wird Kasdan zu einem hervorragenden Ermittler. Ein Experte, der die Fähigkeit besitzt, Indizien aufzuspüren, Tatsachen zu analysieren, Mosaiksteinchen zusammenzufügen und Verdächtige zu einem Geständnis zu bewegen …
Volokine erkundigte sich bei einem Kollegen von Kasdan über diese Zeit, in der sich der Armenier als ein unglaublich guter Spürhund entpuppt hatte. Ein Mann mit sicherem Instinkt und einem Supergedächtnis, der sich noch an kleinste Details erinnerte. Ein Typ, der von den Lippen ablesen konnte, der sich an Gesichter erinnerte, die er nur einmal gesehen hatte. Und vor allem ein Polizist, der die Fähigkeit besaß, Menschen auf den Zahn zu fühlen, ihre Motive zu ergründen und ihre Lügen zu durchschauen.
Volokine vermutete, dass Kasdan in diesem Alter über reichliche Erfahrungen mit dem Bösen und der Gewalt verfügte. Offensichtlich war es ihm gelungen, seine eigenen Aggressionen ganz auf die Verfolgung von Mördern zu richten. Er besaß eine erstaunliche Geduld und nahm sich die Zeit, die er brauchte, um den Täter zu enttarnen.
1995: Kasdan wird mit einundfünfzig Jahren zum Kommissar befördert und – entsprechend den Dienstvorschriften – mit siebenundfünfzig Jahren pensioniert.
Seither hatte man bei der Kripo nichts mehr von ihm gehört. Er hatte seinen Fuß nie mehr in die Zentrale der Pariser Kripo gesetzt. Und er hatte nie aus unpassender Nostalgie irgendjemanden belästigt.
Kasdan hatte wirklich einen Schlussstrich gezogen.
Um 16.00 Uhr verließ Volokine das Archiv, wobei er die Bediensteten mit der angestrengten Miene des Polizisten grüßte, der von einem Fall total absorbiert wird. Die Informationen schwirrten in seinem Kopf herum. Kasdan hatte seinem Dienstherrn vierzig Jahre lang loyal gedient – ohne Furcht und Tadel. Ein Inspektor von echtem Schrot und Korn. Nicht eines dieser Weicheier, denen man in Krimis begegnete und die am Wochenende Geige spielten oder sich
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