Choral des Todes
Grünschnabel.«
Es trat ein Schweigen ein. Kasdan überlegte. Sollte er seinem jungen Kompagnon noch eine Chance geben?
Volokine antwortete ihm, als könnte er seine Gedanken lesen:
»Geben Sie mir noch diese Nacht und einen weiteren Tag. Lassen Sie mich Ihnen beweisen, dass ich recht habe. Die beiden Mordopfer haben gesündigt, und ihre Sünde betrifft Kinder, jede Wette.«
Kasdan griff nach seinem Handy.
»Wen rufen Sie an?«
»Vernoux. Irgendjemand muss ja am Boulevard Malesherbes aufräumen.«
KAPITEL 22
Vermisstendienst, Dezernat zur Bekämpfung von Personendelikten.
Rue du Château-des-Rentiers, 13. Arrondissement.
Im Innern dieses eigenartigen Gebäudes, das die Form eines Halbkreises hatte, bewegte sich Volo wie ein einsamer Jäger. Er ließ seinen Blick über das Archiv der verschwundenen Personen gleiten. In schmalen, tiefen Metallschubladen steckten, dicht gedrängt, Tausende verschiedenfarbige Karteikarten. Jede Farbe für ein Jahr, jede Karteikarte für eine verschwundene Person. Die Karten waren alphabetisch geordnet und enthielten die Personenbeschreibung des Verschwundenen und ein Foto.
Volo rieb sich zufrieden die Hände.
Ein schönes altmodisches Archiv, in dem man nach Lust und Laune herumstöbern konnte.
Er sog die staubgesättigte Luft ein und öffnete dann im Schein der Beleuchtungsanlage die erste Schublade. Ein Teil seines Gehirns konzentrierte sich auf die Arbeit, während der andere abschweifte.
Weitere vierundzwanzig Stunden ohne Dope. Jeder Schritt, jede Minute brachte ihn ein Stück weiter vom Abgrund weg – dem klaffenden Loch im Innern seines Körpers. Er ruderte und ruderte in seinem schäbigen Boot, um sich von dem riesigen Wasserfall zu entfernen, der ihn unaufhörlich anzog. Eine orange-schwarze Kugel, die ihn in seiner Mitte versengte und ihm unablässig zurief: »… every junkie’s like a settin’ sun …«
Während des Tages hatte er zweimal Entzugserscheinungen gehabt. Zwei verschiedene Gesichter des Entzugs. Das erste Mal, auf dem Weg nach Bagnolet, durchlief ihn ein feuriger Krampf vom Steißbein bis zum Nacken. Er hatte geglaubt, seine inneren Organe würden platzen, während sich sein Rückgrat krümmte und mit dem Rückgrat das Rückenmark und seine unzähligen Nerven. Er hatte einen Schrei im Rachen erstickt. Er hatte sein Fenster geöffnet, tief eingeatmet und die Sekunden gezählt.
Der zweite Anfall ereignete sich auf der Rückfahrt. Totale Apathie. Bleierne Nerven. Eine Erstarrung, als ob frischer Beton im Innern seines Körpers »aushärtete«. In diesen Augenblicken war es ihm unmöglich, die Hand zu heben. Jeglicher Gedanke an die Zukunft schien absurd. Eiskalter Schweiß rann von seinen Schläfen. Ein fürchterlicher Magenkrampf – das Monster in seinem Innern drehte sich um und raunte ihm zu:
»Selbstmord.«
Vor dem Computer in Götz’ Wohnung hatte er sich besser gefühlt. Obwohl seine Nase lief, obwohl ihm mehrfach übel geworden war. Aber bei allem, was geschah und was er dachte, war da ein Gedanke gewesen, der ihn aufgebaut hatte: Er nahm nichts. Er machte schwere Zeiten durch, aber er war clean .
Die Gegenwart Kasdans beruhigte ihn ebenfalls. Er spürte, dass auch der dicke Teddybär seine Geheimnisse hatte, aber sein Alter, seine Ruhe und seine Fülle hatten etwas Aufmunterndes. Doch vor allem spürte er, dass ihn der alte Armenier brauchte. Dies stärkte seinen Lebensmut und seine Bereitschaft, am Ball zu bleiben und zu kämpfen …
Kasdan brauchte ihn wegen seiner Jugend, seiner Tatkraft und seines Elans, aber auch wegen seiner Kenntnis der menschlichen Laster. Der Armenier war zu direkt und zu unverblümt für diese Ermittlungen.
Solche Probleme hatte Volo nicht.
Er war selbst verschroben, pervers, verdorben.
Ein Junkie, ein Lügner, ein Dieb und ein labiler Mensch. Niemals erschien er pünktlich zu einer Verabredung. Nie hielt er sein Wort. Ein Zombie, dem man nicht trauen konnte. Ein Kerl, der nur einen Ständer bekam, wenn er einen Dealer sah. In dieser Hinsicht unterschied er sich in nichts von denjenigen, die er jagte. Abschaum, Verbrecher, verkommene Subjekte aller Art. Menschen mit einer dunklen, abartigen, kriminellen Seite. Er konnte ihre Reaktionen und Gedanken vorhersehen und ihre Logik durchschauen. Weil er wie sie war. Dieser Tatsache verdankte er seine beispiellose Aufklärungsquote. Er war ein Krimineller unter Kriminellen. Er wusste, wie sie tickten, und deshalb gingen sie ihm ins Netz.
Volo sichtete noch
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