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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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wenn ich früher in seine Wohnung gekommen wäre, um ihn zu befragen …«
    »Kasdan, das glauben Sie doch selbst nicht. Sind Sie mit Ihrer Predigt fertig?«
    »Du bist fertig. Dein Essen, unsere Zusammenarbeit. Ich bring dich zurück nach Cold Turkey .«
    Der junge Russe antwortete nicht. Er stocherte seelenruhig mit seinem Teelöffel in der Sahne seines Sundae. Schließlich fragte er mit spöttischer Miene:
    »Was glauben Sie, welchem Werk die mit Blut geschriebenen Worte auf der Decke entnommen sind?«
    »Keine Ahnung.«
    »Es ist ein Auszug aus dem Miserere. «
    »Dem Chorwerk?«
    »Das Miserere ist die Vertonung eines Psalms – Psalm 51 oder 50, je nachdem, welche Zählung man heranzieht, die hebräische oder die römische. In der christlichen Liturgie ist dieses Gebet ein Muss. Es wird meistens in der Morgenmesse gesprochen. Es ist das Sühnegebet. Das Flehen um Vergebung. Die wenigen Mönchsorden, die heute noch die Geißelung praktizieren, wie etwa die Redemptoristen, rezitieren das Miserere , während sie sich geißeln. Um sich wieder und wieder zu reinigen. Etwas weiter vorn in dem Psalm gibt es eine Stelle, die lautet: ›Wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee …‹«
    Kasdan heftete seinen Blick auf den abgezehrten jungen Mann, diese widersprüchliche Mischung von Tatkraft und Krankheit, von Schmächtigkeit und danteskem Appetit. Ein sehr verletzlich wirkender Mann, der ihn jedoch innerhalb einer Sekunde hätte ausschalten und in der nächsten Sekunde mit bloßen Händen hätte umbringen können.
    »Woher weißt du das alles?«
    »Zehn Jahre lange katholische Internate. Wir haben das bis zum Abwinken gepaukt.«
    Plötzlich erinnerte sich Kasdan an die unerklärliche Gewissheit, die ihn zwei Tage zuvor überkommen hatte, als er das Miserere mit dem Kopfhörer gehört hatte. Der Gesang spielte in dem Fall eine Rolle. Ohne weiter nachzudenken, fragte er:
    »Weshalb hat der Mörder diese Verse aus den Psalmen an die Wand geschrieben?«
    »Es ist ein Geschenk.«
    »Ein Geschenk?«
    »Der Mörder hat sich gerächt, aber er hat Barmherzigkeit gezeigt. Mit diesen Worten fleht er Gott an, Naseer zu vergeben. Der Mörder ist ein frommer Mensch. Er glaubt an die geistliche Kraft der Worte. Für den Gläubigen ist das Gebet ein an Gott gesandtes Zeichen, aber es ist auch ein Zeichen, das Gott ›enthält‹. Das Niederschreiben dieser Wörter ist wie der Beginn der Vergebung …«
    »Weshalb gab es dort, wo Götz gefunden wurde, keine schriftliche Botschaft?«
    »Vielleicht wurde der Mörder gestört. Er hat nicht die Zeit gehabt, die Arbeit zu Ende zu führen. Oder er ist der Meinung, dass Götz keine Vergebung verdient, der kleine Naseer dagegen schon. Die Hölle für den einen, das Fegefeuer für den anderen. Wir müssen noch tiefer graben, Kasdan.«
    »Wenn ich dich nicht ins Cold Turkey zurückbringen würde, was würdest du dann heute Abend machen?«
    »Ich würde zur Vermisstenstelle in der Rue du Château-des-Rentiers fahren, um herauszufinden, ob im Umfeld von Götz nicht noch weitere Kinder verschwunden sind, seitdem er in Frankreich lebt. Bei allen Chören, die er geleitet hat. Anschließend würde ich zum Jugendschutzdezernat fahren, um all die kleinen Sänger sämtlicher Chöre zu überprüfen.«
    »Das hab ich schon getan und nichts gefunden.«
    »Sie haben das bei Saint-Jean-Baptiste und Notre-Dame-du-Rosaire getan. Wenn ich mich richtig erinnere, bleiben also noch Saint-Thomas-d’Aquin und Notre-Dame-de-Lorette übrig. Außerdem haben Sie das telefonisch überprüft. Ich würde die Archive ganz genau durchforsten. Nichts ist so ergiebig wie eine gründliche Recherche in Kartons.«
    »Ist das alles?«
    »Nein. Ich würde außerdem alle Familien anrufen, bei denen Götz Klavierunterricht gegeben hat. Dann würde ich das Profil jedes Burschen durchchecken. Ich würde auch die Ermittlungsakte von Tanguy Viesel suchen. Das Jugendschutzdezernat hat bestimmt eine Kopie. Ich würde in der chilenischen Vergangenheit von Götz herumwühlen. Ich kann es Ihnen nicht erklären, Kasdan, aber ich spüre, dass der Typ nicht sauber ist.«
    »Du schläfst also nie?«
    »Selten. Und das entscheide nicht ich. Ihnen dagegen rate ich, in aller Ruhe nach Hause zu fahren und an Ihrer Bildung zu feilen.«
    »Im Fach Religion?«
    »Im Fach Kriminalistik. Kinder, die gemordet haben. Suchen Sie im Internet. Sie werden sehen, dass es gar nicht so selten vorkommt. Ich bin dreißig Jahre alt, aber Sie sind der

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