Choral des Todes
Uhr.
Einige Schritte von der Place de l’Étoile entfernt.
Volokine machte sich über seinen zweiten Bacon Royal her. Auf seinem Tablett befanden sich außerdem mehrere Portionen Pommes frites und eine Schachtel mit neun Nuggets sowie ein McSundae mit Karamellsauce und ein Haufen Ketchup- und Mayonnaise-Beutelchen. In der Mitte thronte ein großer Becher Cola light. Der Russe patschte auf dem Tablett herum wie ein Ferkel in seinem Futtertrog.
Sprachlos betrachtete Kasdan das Tablett. Er hatte nur einen Kaffee genommen. Der Armenier hatte ein dickes Fell, aber es war ihm nie gelungen, sich beim Anblick von Leichen eines Unbehagens zu erwehren, einer Fülle von Fragen, die ihm jedes Mal die Laune verdarben. Volokine schien von einem anderen Schlag zu sein. Der Anblick des Todes schien ihn nicht zu berühren. Kasdan hatte sogar den Verdacht, dass der Leichnam seinen Appetit angeregt hatte.
Der Russe fing seinen Blick auf.
»Wieso sind Sie eigentlich so ein Muskelpaket, wenn Sie nichts essen?«
Kasdan ignorierte die Bemerkung und sagte:
»Ich habe genug Zeit mit dir verloren. Deine Schicht ist beendet. Wir haben nichts gefunden, und der Mord an Naseer beweist, dass an deinen Hirngespinsten nichts dran ist.«
»Wieso?«
»Deine Hypothese, dass der Mord von einem Kind begangen wurde, erschien mir absurd, aber ich konnte mir gerade noch einen missbrauchten, vollkommen haltlosen Jungen vorstellen, der seinen Vergewaltiger umgebracht hat. Dabei musste man allerdings schon ausblenden, wie der Mord begangen worden war. Mit einer Methode, die für ein Kind viel zu kompliziert ist. Nach diesem zweiten Mord steht fest, dass es eine falsche Spur war.«
»Weil der Junge einen Vergewaltiger umbringen könnte, nicht aber zwei?«
»Ich kann mir keinen Jungen vorstellen, der auf eigene Faust Ermittlungen anstellt, den Liebhaber von Götz aufspürt, ihn aufsucht, für sich gewinnt, um ihm dann das Trommelfell zu durchstechen und die Zunge abzuschneiden. Zu viel ist zu viel, kapiert?«
Volokine tunkte sein Sandwich in einen rötlichen Klecks, eine Mischung aus Ketchup und Mayonnaise. Mit der anderen Hand langte er in ein Tütchen Pommes frites.
»Ist Ihnen an der Schrift nichts aufgefallen?«
»Was für eine Schrift?«
»Die Schriftzüge an der Decke. Sorgfältig ausgeführte, runde Buchstaben. Die Handschrift eines Kindes.«
»Verschon mich mit deinem Quatsch!«
»Sie machen einen Fehler.«
»Du machst einen Fehler. Wir haben die Chorknaben ein zweites Mal befragt. Ohne Ergebnis. Diese Jungen haben nichts mit den Morden zu tun.«
Der Russe öffnete die Schachtel mit den Nuggets und das Döschen mit der Barbecue-Soße:
»Diese Jungs vielleicht. Aber Götz leitete noch weitere Chöre.«
»Außerdem habe ich das Vorleben der Sängerknaben des Chores von Notre-Dame-du-Rosaire, dem der kleine Tanguy Viesel angehörte, durchleuchtet. Keiner von ihnen ist vorbestraft oder psychiatrisch auffällig geworden. Wir haben es mit vollkommen normalen Jungen in einer vollkommen normalen Welt zu tun. Mann, wir müssen es anders anpacken!«
Kasdan nahm einen großen Schluck Kaffee. Geschmacklos. Er fragte sich, ob man ihm nicht versehentlich einen Tee untergejubelt hatte. Sie hatten sich in einen abgetrennten kleinen Nebenraum gesetzt, nahe an einem Mülleimer mit schwenkbarer Klappe. Um sie herum der übliche Lärm eines Fastfood-Restaurants. Das einzige Originelle war die Weihnachtsdekoration, die matt funkelte und dem aseptischen Ort etwas Trostloses verlieh.
»Deine ganze Theorie steht und fällt mit der Annahme, dass Götz pädophil war«, fuhr Kasdan fort. »Ich habe eine ganze Nacht damit verbracht, in speziellen Datenbanken zu recherchieren. Sein Name ist nirgendwo aufgetaucht. Wir haben seinen Computer auf den Kopf gestellt, ohne den geringsten Anhaltspunkt zu finden. Götz war homosexuell. Okay. Er hatte einen Freund und zweifellos bizarre Neigungen. Einverstanden. Aber das ist alles. Letztlich bist du derjenige, der Vorurteile hat. Man kann schwul sein oder auf SM stehen, ohne ein Kinderschänder zu sein.«
Volokine stellte sein McSundae mit Karamellsauce vor sich:
»Ich vertraue meinem Instinkt, Kasdan.«
Kasdan stellte die Schachteln und die übrigen Reste des Essens auf das Tablett und schüttete alles in den Mülleimer.
»Sie anscheinend nicht!«, meinte Volokine lächelnd.
Der Armenier blickte dem jungen Polizisten fest in die Augen:
»Das Schlimmste ist, dass ich den Mord an Naseer hätte verhindern können,
Weitere Kostenlose Bücher