Choral des Todes
immer die Karteikarten – ein Teil seines Bewusstseins registrierte jedes Datum, jede Altersangabe, jede Personenbeschreibung. Gleichzeitig zogen sein Leben als Junkie und seine albtraumhaften Erinnerungen vor seinem inneren Auge vorbei.
Amsterdam 1995. In einem besetzten Haus. Als die anderen Fixer bemerkten, dass sich einer von ihnen eine Überdosis verpasst hatte, hatten sie nur noch eines im Sinn: den Leichnam entsorgen. Keine Leiche, keine Probleme. Doch das war ein unausgegorener Gedanke. Eine typische Fixer-Idee. Obwohl er, Volo, noch unter den Wirkungen des Heroins taumelte, hatte er sich dazu bereit erklärt. Im obersten Geschoss des Lagerhauses hatte er eine Plastikplane gefunden. Er hatte die Leiche darin eingewickelt und sie dann in das schwarze Wasser des Flusses unter dem Fundament des besetzten Hauses gleiten lassen.
Jede Nacht sah er diesen bizarren Sarkophag vor sich, der in der Finsternis trieb. Er hörte das leise Plätschern des Wassers und das Schweigen der anderen Freaks, die zusahen, wie ihr Kumpel in der Strömung abtrieb. Dieser erbärmliche Leichenzug erwartete sie alle. Ein anonymer, düsterer, trauriger Tod, der morgen oder in einigen Jahren eintreten würde. Damals war Volo noch keine siebzehn Jahre alt.
Er erinnerte sich an eine spanische Geliebte, die er in Tanger gehabt hatte, als er in der Hoffnung auf billigeres Dope nach Marokko gereist war. Ihre Affäre hatte nur kurz gedauert. Das Mädchen hatte sich auf der Suche nach einem Fix in der Medina verlaufen. Sie war vergewaltigt und mit halb eingeschlagenem Schädel aufgefunden worden.
Er hatte die Nachricht, die man sich im Souk hinter vorgehaltener Hand erzählte, von anderen Junkies erfahren. Es war ein Gerücht, mehr nicht. Volo suchte das Krankenhaus auf und fand das Mädchen. Trepaniert. Die Hälfte ihres Schädels war rasiert. Als er das Zimmer betreten hatte, hatte sie ihn nicht erkannt. Da war er plötzlich sicher. Man hatte ihr jene Hirnhälfte entnommen, in der er repräsentiert war. Für sie existierte er nicht mehr. Und die eigentliche Frage auf diesem sonnendurchfluteten Korridor lautete: Für wen existierte er eigentlich?
Andere Erinnerungen.
Andere üble Geschichten.
Paris. Endloses Warten auf einen Dealer. Schließlich fährt Volo zu seinem Atelier – angeblich ist der Typ Maler. Er findet ihn bewusstlos und von Krämpfen geschüttelt vor, eindeutige Anzeichen einer Überdosis. Eigentlich müsste er die Feuerwehr und den Rettungsdienst anrufen. Doch stattdessen durchsucht Volo das Atelier nach gefalteten kleinen Papieren. Als er die Tütchen unter einer Latte des Holzfußbodens entdeckt, setzt er sich gleich im Bad einen Schuss. Erst jetzt sieht er wieder klar. Er ruft die Kripo an: Sie sollen einen Notarzt mitbringen. Er wartet auf sie, mit fünfzig Gramm in der Tasche, und behauptet, der Sterbende wäre sein Spitzel.
Die Fixer. Sie bemühen sich immer, normal, liebenswürdig und offen zu wirken. Sie tun so, als unterhielten sie gesunde, unbeschwerte Beziehungen zu anderen Menschen. Sie versuchen ihr Gegenüber unter allen Umständen davon zu überzeugen, dass es Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gibt. Aber nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Ein Rauschgiftsüchtiger hat kein echtes Interesse an anderen Menschen. Seine Fragen, seine Überlegungen gehen niemals über eine unsichtbare Mauer hinaus – die des Dope. Die einzige Frage, die zählt, lautet: Wie komme ich dran? Er selbst hatte mit Tussis geschlafen, weil sie mit Heroin dealten. Er hatte reichen Schwachköpfen geschmeichelt, weil sie Drogen-Partys organisiert hatten. Er hatte Knastis, Dealer und Kumpel beklaut.
Ein einziger Sumpf.
Volokine brach in einem der Regalgänge zusammen. Ein heftiger Krampf zerriss ihm die Eingeweide. Er glaubte, sich gleich übergeben zu müssen. Seine Bacon Royal und den Rest. Aber der Krampf ging vorüber. Er richtete sich auf einem Knie auf, während ihm aufgestoßene Galle wie ein Spritzer Napalm den Hals verätzte.
Er lächelte. Ein Totenkopflächeln. Niemals würde er es ohne Stoff aushalten. Die Droge war Teil seines Stoffwechsels geworden. Sein Zustand erinnerte ihn an den von Diabetikern. Er war in genau derselben Lage. Er litt an einem physiologischen Mangel. Seinem Blut fehlte etwas, dem nur eine Droge abhelfen konnte. Aber vielleicht war das schwarze Loch anfangs auch psychischer Natur gewesen … Egal. Ruhe, Gelassenheit befanden sich an der Nadelspitze. Machte man es den Diabetikern zum Vorwurf, dass
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