Choral des Todes
sie sich Insulin spritzten? Den Depressiven, dass sie Antidepressiva nahmen?
Seine Hand klammerte sich an die offenen Schubladen. Es gelang ihm, aufzustehen. Obwohl er in seinem Anzug schlotterte, gab er sich ein Versprechen. Er würde nichts nehmen, bis er den Schuldigen im Fall Götz identifiziert hätte. Ein Junge – er wusste es, er spürte es – hatte beschlossen, Rache zu nehmen, weil ihm etwas zuleide getan worden war. Er würde kein Gramm anrühren, ehe er diesen Jungen gefasst hätte. Nicht um ihn zu verhaften, sondern um ihn zu retten …
KAPITEL 23
Kinder, die morden.
Grausame, psychopathische, pyromanische Kinder.
Halbwüchsige, bis an die Zähne bewaffnete Serienmörder.
Kasdan saß mittlerweile seit über einer Stunde vor dem Bildschirm.
Die Taten, wie eingebrannt in die Netzhäute seiner Augen.
2004: Ancourteville, Seine-Maritime.
Pierre Folliot, vierzehn Jahre, erschießt seine Mutter, seine Schwester, seinen kleinen Bruder und anschließend seinen Vater, wobei er, zwischen jedem Mord, eine Videokassette mit dem Film Shrek ansieht.
1999: Littleton, US -Bundesstaat Colorado.
Eric Harris und Dylan Klebold versetzen Lehrer und Schüler der Highschool Columbine in panische Angst, indem sie wahllos in die Klassenzimmer schießen. Sie töten einen Lehrer und zwölf Schüler und verletzen zwanzig weitere Personen, bevor sie ihre Waffen gegen sich selbst richten.
1999: Los Angeles.
Mario Padilla, fünfzehn Jahre, ermordet seine Mutter mit 47 Messerstichen; dabei hilft ihm Samuel Ramirez, 14 Jahre, der einen Schraubenzieher verwendet. Beide tragen den gleichen Anzug wie der Mörder in dem Film Scream .
1993: Liverpool.
Robert Thompson und Jon Venables, 11 Jahre, foltern und schlagen den dreijährigen James Bulger mit Backsteinen und Eisenstangen tot. Sie lassen den Leichnam auf einem Bahngleis liegen, damit er in zwei Hälften zerteilt wird.
1993: US -Bundesstaat New York.
Eric Smith, dreizehn Jahre, erschlägt und erdrosselt den vierjährigen Derrick Robie in einem öffentlichen Park. Anschließend führt er ihm einen Stock in den After ein.
1989: Kalifornien.
Erik und Lyle Menendez ermorden ihren Vater und ihre Mutter mit mehreren Schüssen in den Rücken, in der Hoffnung, an ihr Erbe zu kommen.
1978: ein Vorort von Auxerre.
Vier Jungen zwischen zwölf und dreizehn Jahren steinigen einen Obdachlosen und lassen ihn sterbend zurück.
Kasdan hatte nur die Wörter »mordende Kinder« in seinen Computer eingegeben, und die große Zahl der Treffer erstaunte ihn. Er kannte etliche dieser Meldungen, aber dicht aneinandergefügt wirkten sie wie eine endlose Folge von Albträumen. Eine Büchse der Pandora. Ein Schüler erdolchte einen anderen wegen einer Mütze. Kinder töteten ihre Eltern. Kinder vergewaltigten im Alter von acht Jahren …
Kasdan versuchte der Liste etwas von ihrem Schrecken zu nehmen, indem er nach Erklärungen suchte. Um das Grauen mit Hilfe der Vernunft zu bewältigen. Um mit analytischen Kommentaren die rohen Fakten erträglich zu machen.
Er fand im Internet auf Anhieb psychiatrische Berichte, psychologische Analysen und Gutachten – die meisten davon auf Englisch –, deren begriffliche Unschärfe und Widersprüchlichkeit ihn jedoch enttäuschten. Einige sprachen von genetischer Veranlagung: Es gebe ein Gen für erhöhte Gewaltbereitschaft, das eine Disposition für Gewaltverbrechen mit sich bringe. Andere suchten eine Erklärung in psychotischen Erkrankungen: Kinder, die mordeten, seien schizophren und litten an einer Persönlichkeitsspaltung. Andere verwiesen auf den Einfluss des sozialen und familiären Umfeldes: Armut und Gewalterlebnisse schon in frühester Kindheit erzeugten eine psychopathische Persönlichkeit, die ihre Affekte und Impulse nicht kontrollieren könne. Auch die Massenmedien – Fernsehen, Internet und Videospiele – wurden als Erklärung für extreme Gewaltbereitschaft bei Kindern herangezogen.
Das einzige Problem bestand darin, dass keine dieser Erklärungen für alle Kinder, die Morde begingen, galt. Es gab kein typisches Profil für diese Mörder. Dies bedeutete letzten Endes, dass es keine Patentlösung gab. Oder vielmehr: die einfachste. Der Mensch war schlecht, und folglich war der »kleine Mensch« kaum besser …
Um halb eins löste sich Kasdan vom Bildschirm. Angewidert, bedrückt, erschöpft. Er ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Kehrte zurück ins Wohnzimmer. Stellte sich ans Fenster, das unter dem schrägen Dach in
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