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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Abgeblätterte Farbe, gesprungenes Klappfenster, Stehklo …
    Keiner von beiden betätigte den Schalter der Treppenhausbeleuchtung.
    »Wir werden doch nicht an alle Türen klopfen.«
    »Nein«, sagte Kasdan und zog sein Telefon heraus.
    Der Armenier wählte die Nummer Naseers. In der Stille des Flurs hallte ein schwaches Läuten wider. Mit einem Kopfnicken forderte Kasdan Volokine auf, ihm zu folgen. Sie schlichen durch die Finsternis, unter zwei Dachfenstern vorbei. Sie hörten das gedämpfte Geräusch eines Fernsehers und eine Stimme, die in einer asiatischen Sprache telefonierte.
    Und noch immer das Läuten, das ihnen den Weg wies …
    Naseer ging nicht dran.
    Sie drangen weiter vor. Die bläulichen Lichtstreifen der Nacht, die durch die kleinen Dachfenster eindrangen, glichen Lackstrichen auf einem dunklen Gemälde. Schließlich erreichten sie die Tür. Dahinter klingelte das Handy. Weshalb ging der kleine Schwule nicht dran?
    Der Armenier klopfte:
    »Naseer, mach auf. Hier ist Kasdan.«
    Keine Reaktion. Es läutete weiterhin.
    »Mach auf, verdammt, oder ich trete die Tür ein«, brüllte der Armenier.
    Zwei Philippinerinnen erschienen in einer Tür. Volokine hielt ihnen seinen blau-weiß-roten Ausweis entgegen. Die beiden Mädchen verschwanden, als hätten sie nie existiert.
    Das Läuten brach ab. Kasdan lauschte. Er hört die Ansage auf dem Anrufbeantworter. Die phlegmatische Stimme Naseers. In seinem Kopf wirkte diese Stimme wie ein Signal.
    Ohne sich abzustimmen, zogen die beiden Männer ihre Waffen. Kasdan stellte sich vor die Tür, während sich Volokine mit der rechten Seite, die Waffe im Anschlag, an die Wand lehnte.
    Ein Tritt, ohne Erfolg.
    Ein zweiter: Die Tür wurde aus den Angeln gerissen und prallte zurück.
    Kasdan hatte sich bereits auf die Seite gedreht, um den Rückschlag mit einem Schulterstoß aufzufangen.
    Er drang in die Bude ein, die Sig Sauer in der ausgestreckten Hand.
    Volokine direkt hinter ihm.
    Das Erste, was er sah, waren die Schriftzüge auf der schrägen Decke.
    Befrei mich von Blutschuld,
Herr, du Gott meines Heiles,
dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit.
    Als Zweites erblickte er den Körper, der auf den Terrakottafliesen saß und bereits steif war. Der arme Liebling von Götz war so kalt wie die Gipswand, die ihn stützte.
    Als Drittes sah er die lange, tiefe Schnittwunde in seinem Gesicht. Man hatte ihm die Mundwinkel von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt, sodass sein Gesicht einer schauerlich grinsenden Fratze glich. Sie weckte eine Erinnerung in Kasdan. Eine besonders grausame Verstümmelung, die in Gefängnissen für Denunzianten bestimmt ist: das »tunesische Lächeln«. Eine Klinge, die in den Mund geschoben wird und die Wange mit einem Schnitt aufreißt. Tschak . Hier war das Lächeln beidseitig. Ein monströser Clown.
    Als Viertes bemerkte er den dünnen Blutfaden, der aus dem linken Ohr des Opfers geflossen war. Naseers Kopf war leicht zur Seite geneigt. Ein erstarrtes Halbprofil, das die unheimliche Klarheit der erkalteten Haut aufwies. Der Stricher war auf die gleiche Weise getötet worden wie sein Freier. Mit einem spitzen Gegenstand, der das Trommelfell durchbohrte. Kasdan begriff, dass sie es mit einem Serienmörder – Kind oder nicht – zu tun hatten, der die Namen auf einer Liste durchstrich, die nur er kannte.
    »Bewegen Sie sich, Kasdan. Man kriegt hier keine Luft, und wir sollten bald verschwinden.«
    Der Armenier blickte in die Runde. Volo hatte recht. Das Zimmer war höchstens fünf Quadratmeter groß, und er, Kasdan, stand in der Mitte und nahm mit seinen hundertzehn Kilo den ganzen Raum ein.
    »Gib mir mal die Handschuhe.«
    Volokine, der neben der Leiche kniete, warf ihm ein Paar Chirurgenhandschuhe zu. Kasdan streifte sie über, sein Gesicht glühte. Schweiß sammelte sich an seinen Fingerspitzen. Er bückte sich und packte die geballte Faust Naseers.
    Es gelang ihm, die leichenstarren Finger aufzubiegen.
    Im Innern Blut.
    Ein Blutgerinnsel.
    Mit dem Zeigefinger befühlte er die schwärzliche Masse.
    Nein, kein Gerinnsel, ein Organ.
    Kasdan ergriff das Objekt und betrachtete es in seinem behandschuhten Handteller.
    Es war die abgetrennte Zunge Naseers.
    Kasdan blickte auf.
    Die Buchstaben waren nicht mit einem Pinsel gemalt worden, sondern mit der Zunge.
    Befrei mich von Blutschuld,
Herr, du Gott meines Heiles,
dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit.

KAPITEL 21
    McDonald’s in der Avenue de Wagram, 21.00

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