Choral des Todes
Freud gesagt hat? ›Wir alle sind fasziniert von kleinen Kindern und großen Verbrechern‹. Unsere ›kleinen Kinder‹ sind vielleicht auch ›große Verbrecher‹. All dies gleichzeitig .«
»Noch gestern wollten Sie nichts davon wissen, dass Kinder gewalttätig sein können.«
»Anpassungsfähigkeit. Das, worauf es für einen Polizisten ankommt. Die beiden Priester haben mich hellhörig gemacht. Die Verbrechen folgen einem Ritual. Einem Ritual, das sich weiterentwickelt. Das Trommelfell und die Schmerzen für Götz. Das Gleiche für Naseer, mit einigen zusätzlichen Gräueln. Das ›tunesische Lächeln‹. Die abgeschnittene Zunge. Der mit Blut geschriebene Schriftzug. Der oder die Mörder wollen uns etwas sagen. Ihre Botschaft verändert sich.«
Volokine stieß eine lange Rauchfahne durchs Fenster nach draußen.
»Fahren Sie fort.«
»In einem der vier Chöre, die Götz leitete, gibt es zwei oder drei Kinder, die scheinbar den anderen gleichen, tatsächlich aber Zeitbomben sind. Ein Signal löst ihren Anfall von Mordlust aus. Irgendetwas bei Götz macht diese Kinder zu Mördern. Dieses ›Etwas‹ ist sehr wichtig, denn es zwingt uns dazu, Götz noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, bis wir bei ihm das finden, was diesen Mordimpuls hervorgerufen hat. In der Persönlichkeit, im Beruf, im Verhalten des Chilenen verbirgt sich ein Zeichen, ein Detail, das den kriminellen Trieb der Kinder ausgelöst hat. Wenn wir dieses Zeichen gefunden haben, sind wir den Tätern ganz dicht auf der Spur.«
»Und Naseer?«
»Vielleicht trägt er das gleiche Zeichen. Oder der Mauritier war aus irgendeinem Grund, den wir noch nicht kennen, Teil der kriminellen Verschwörung. Oder Naseer wurde umgebracht, weil er etwas gesehen hatte. Aber jetzt folgen die Mörder ihrem Weg. Die Sache geht weiter.«
»Könnte dieses Signal ein Vergehen, ein schuldhaftes Tun sein? In diesem Fall würden wir auf meine erste Theorie zurückkommen: die Rache.«
»Nur dass wir in zwei Tagen keinen Beweis für ein Fehlverhalten von Götz gefunden haben.«
»Schön, aber haben Sie eine andere Idee?«
»Ich denke an die Musik.«
»Die Musik?«
»Als Götz getötet wurde, spielte er gerade Orgel. Vielleicht hat eine bestimmte Melodie die Kinder zur Tat gedrängt.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nichts eingeschmissen haben?«
Kasdan wandte sich seinem Partner zu. Mit Nachdruck fuhr er fort:
»Es ist vier Uhr nachmittags. Die Kinder spielen im Hof hinter der Kathedrale Saint-Jean-Baptiste. Plötzlich hallen die Orgelklänge leise wider. In dem Lärm hören unsere Kinder die Melodie. Sie zieht sie an, saugt sie regelrecht an. Die Kinder verschwinden in dem Gewölbe, das ins Kircheninnere führt … Sie drücken die angelehnte Tür auf … Sie betreten das Innere und steigen die Stufen zur Empore hinauf … Die Musik hypnotisiert, fasziniert sie …«
»Womit wir wieder bei den Chorknaben von Saint-Jean-Baptiste wären?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und diese Melodie: Denken Sie an ein bestimmte Stück?«
»Das Miserere von Gregorio Allegri.«
»Das ist ein Gesangswerk.«
»Man muss es auch auf der Orgel spielen können.«
»Weshalb sollte Götz das ausgerechnet an diesem Tag spielen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass das Miserere in diesem Fall eine Rolle spielt. Lass mich fortfahren. Die Melodie erklingt. Die berühmten hohen Töne. Kennst du bestimmt …«
»Das höchste Do der gesamten schriftlich überlieferten Musik. Es kann nur von einem Knaben oder einem Kastraten gesungen werden.«
»Okay. Die Kinder nehmen diese Töne wahr. Sie erinnern sie an etwas. Sie lösen einen unwiderstehlichen Handlungsimpuls aus. Sie müssen diese Melodie unterbinden. Denjenigen, der sie spielt, vernichten. Ja. Ich bin sicher, dass die Musik ein Schlüsselelement in dieser Geschichte ist.«
Der Russe zog wieder an seinem Haschischtütchen:
»Alle Achtung … Sie sollten keine Drogen anrühren, das könnte gefährlich sein …«
Kasdan setzte seinen Gedankengang fort:
»Das erste Verbrechen war der Anstoß. Für das folgende und vielleicht für die weiteren. Für mich offenbart der Mord an Naseer das innerste Wesen der Mörder. Die Verstümmelungen. Die Aufschrift. Es gibt ein Ritual, vielleicht eine Rache, vor allem aber die Befriedigung eines Verlangens. Es ist ein sadistisches Verbrechen. Die Mörder hatten Spaß dabei. Sie haben sich bei der Tat Zeit gelassen. Sie haben sich an dem Blut und dem Anblick des Leichnams
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