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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Oberkörper gegen die Stufen zum Chor gelehnt. Die Beine lagen dicht aneinander, der eine Arm war gesenkt, der andere gehoben. Eine Märtyrer-Haltung, dachte der Russe.
    Der Leichnam schimmerte im Licht der Scheinwerfer. Seine Nacktheit wirkte anstößig, und zugleich hatte dieser schamlos entblößte Körper etwas Unwirkliches. Das Fleisch schien sich im Licht aufzulösen. Volokine musste an eine Skulptur aus weißem Marmor denken, etwa die Pietà von Michelangelo. Eine Skulptur, die in dieser Kirche aus dunklem Basalt und Blei wie ein Fremdkörper wirkte.
    »Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Kasdan.
    »Einer der Priester der Pfarrei. Pater Olivier. Seine Kleidung haben wir ein Stück entfernt gefunden. Er wurde nach Eintritt des Todes entkleidet und verstümmelt.«
    Man musste kein Gerichtsmediziner sein, um die Verletzungen zu erkennen. Aus den beiden leeren Augenhöhlen tropfte Blut. Sein blutverklebter Mund wies eine klaffende Wunde auf, die sich von den Mundwinkeln bis zu den Ohren zog. Der Tote hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Wenn man der Logik des Mörders folgte, konnte man sich leicht vorstellen, was sich in den Fingern verbarg. In der rechten Hand – die Zunge. In der linken Hand – die Augen. Oder umgekehrt.
    »Er muss im Laufe des Nachmittags getötet worden sein«, erklärte Vernoux. »Es gibt keine Zeugen. Das muss man erst mal fertigbringen. Ein solches Blutbad in einer Kirche, und niemand hat etwas gesehen. Offenbar lässt sich hier tagsüber niemand blicken.«
    Volokine und Kasdan machten Anstalten, sich der Leiche zu nähern. Da streckte Vernoux seinen Arm aus:
    »Halt! Sonst trampelt ihr auf dem Wichtigsten herum.«
    Die beiden Polizisten hielten inne. Zu ihren Füßen, auf dem schwarzen Parkettboden, entfaltete sich ein blutverkrusteter Schriftzug:
    Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt,
Was in deinen Augen böse ist, habe ich getan.
    Der in Form eines Kreisbogens geschriebene Satz war zum Mittelschiff hin ausgerichtet, damit ihn die Gläubigen, die später eintreffen würden, auch nicht übersähen. Volokine unterdrückte ein Schaudern. Es war der gleiche Schriftzug wie bei Naseer. Rund, regelmäßig, naiv. Die Schrift eines Kindes.
    »Es ist eine Serie …«, brummte Vernoux nach hinten. »Eine verdammte Serie …«
    Kasdan drehte sich um und fragte ihn:
    »Wie weit sind Sie?«
    »Nichts Neues. Aber es kommt noch schlimmer.«
    Volokine kam näher. Er wollte hören, was »schlimmer« bedeutete.
    »Ich habe Anrufe erhalten«, murmelte Vernoux, »man übt Druck auf mich aus.«
    »Wer?«
    »Der Inlandsgeheimdienst und der Verfassungsschutz. Sie sagen, das sei ihr Fall. Sie haben Götz’ Wohnung bereits durchsucht.«
    Kasdan tauschte mit Volokine einen Blick geheimen Einverständnisses: die Mikrofone.
    »Sie werden mir den Fall entziehen«, fuhr Vernoux mit kalter Wut fort. »Und verdammt, ich weiß nicht einmal, wieso. Jedenfalls lag ich von Anfang an richtig: Dahinter verbirgt sich etwas Politisches.«
    »Das sieht mir eher nach Ritualmorden aus«, warf Volokine ein.
    Vernoux warf ihm einen Blick zu. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht und wandte sich an Kasdan:
    »Das ist ja das Verrückte. Ein Serienmörder, und zugleich steckt was Politisches dahinter. Da bin ich mir sicher!«
    »Was wisst ihr über den Priester?«, fragte der Armenier.
    »Bis jetzt noch nichts. Wir haben gerade erst mit den Vernehmungen begonnen.«
    Volokine erblickte einen kleinen grauhaarigen Mann mit gebräunter Haut, der wie eine Zigarre in seinen Regenmantel eingewickelt war. Unter seinem Arm trug er eine Aktenmappe. Eine Art Inspektor Columbo, der sich in diesem Gemetzel ganz und gar wohl zu fühlen schien. Zweifellos der Gerichtsmediziner.
    Kasdan ließ Vernoux stehen, um mit ihm zu sprechen. Volokine blieb allein zurück. Er sah sich noch einmal die Kulisse an. Dieser Tatort hatte eine bestimmte Bedeutung. Eine Stätte der Reinigung, der Sühne. Dieser Mord sollte zugleich den Charakter einer Erlösung haben.
    Unwillkürlich blickte Volo auf und heftete seinen Blick auf das große Kreuz aus unlegiertem Kupfer, das in der Mitte des Altars prangte. Der nackte Leichnam bildete mit diesem Kreuz eine vertikale Achse. Das Ganze erinnerte an die düsteren Gemälde El Grecos.
    Volokine gesellte sich zu Kasdan, der mit Columbo sprach. Als er hinzutrat, hörte er den Arzt sagen:
    »Das gleiche Lied wie die anderen beiden Male.«
    »Todesursache war also das Durchstechen der

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